Will Gallows – Der Schrei des Donnerdrachen (German Edition)
Gesicht, jedenfalls stupste Jez mich an.
»Was ist denn, Will?«
»Den kenne ich. Das ist ein Elf. Wir haben uns letztes Jahr kennengelernt, auf der Fahrt nach Deadrock. Weißt du noch? Ich hab dir doch von ihm erzählt. Als junger Mann ist er bei einem Medizinmann in die Lehre gegangen, aber dann hat er die Ausbildung abgebrochen und sich entschieden, bei der Eisenbahn zu arbeiten. Vielleicht kann
er
uns ja helfen, damit wir mal einen Blick in den letzten Waggon werfen können.«
Der Elf fing meinen Blick auf. Ich tippte mir an den Hut, aber er beachtete mich überhaupt nicht, sondern stellte dem Mann mit der Zeitung einen Fahrschein aus. Ich musste daran denken, wie er mit bloßen Händen eine Flamme herbeigezaubert hatte, um die Tunnelbeleuchtung im Zug anzuzünden. Als er sich zum Gehen wandte, sprang ich auf und ergriff seinen Arm. »Warten Sie doch. Wissen Sie noch, wer ich bin?«
Der Elf sah mich aus milchigen Augen an. Irgendwie machte er einen nervösen Eindruck. Dann schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid, mein Junge, aber ich kann mich nicht erinnern.«
»Es ist ja auch schon eine ganze Weile her, aber ich habe Ihnen damals von meinem Onkel erzählt …«
»Tut mir leid, ich kenne dich nicht«, fiel er mir ins Wort. Seine Stimme klang jetzt aufgeregt. »Und jetzt entschuldige mich bitte …« Mit diesen Worten huschte er zur Abteiltür hinaus, als könnte es ihm gar nicht schnell genug gehen.
Sein Verhalten verwirrte mich. Bei unserer ersten Begegnung war er sehr freundlich gewesen und überhaupt nicht abweisend oder unhöflich.
»Was hat er denn?«, sagte Jez, als ich mich wieder hingesetzt hatte.
»Keine Ahnung. Mit so einer Reaktion habe ich auch nicht gerechnet.«
»Wahrscheinlich ist er bloß sauer, dass er schon tausend Jahre alt ist und immer noch arbeiten muss.«
Doch dann, zu meiner großen Überraschung, steckte der Schaffner noch einmal den Kopf zur Abteiltür herein und gab mir ein Stück Papier, genauso groß wie ein Fahrschein.
»Tut mir leid, Sir, aber ich habe Ihnen ja gar keinen Fahrschein gegeben.« Und mit einem Lächeln war er wieder verschwunden.
Ich warf Jez einen Blick zu, und sie erwiderte ihn mit einem Stirnrunzeln. Dann sahen wir uns den Zettel an. Darauf stand in zitteriger Handschrift:
Der Elf hatte sich
doch
an mich erinnert. Und er wollte mich sprechen – aber wieso? Vielleicht war er vorhin nur deshalb so abweisend gewesen, weil das Abteil so voll war. Vielleicht wusste er etwas über das Fort. Ich platzte fast vor Ungeduld, aber mir war klar, dass ich hier drin nicht auffallen durfte. Darum faltete ich den Zettel in aller Ruhe zusammen und steckte ihn in meine Hosentasche, als der Mann mit der Zeitung mich über den Rand seiner Brille hinweg musterte.
Nachdem Jez und ich ein paar Minuten lang schweigend dagesessen hatten, stieß ich sie mit dem Ellbogen an. »Komm, lass uns mal nach Grandma schauen.«
Sie nickte, und wir gingen hinaus. Am Ende des Korridors befand sich eine Tür mit einem Schild:
Ohne zu zögern, drückte ich mit beiden Händen den Riegel nach unten. Dann standen wir auf einem schmalen Trittbrett, das von drei Seiten mit einem Metallgeländer umgeben war. Auf der vierten Seite befand sich eine Leiter. Der dahinrasende Zug machte einen solchen Lärm, dass mir fast das Herz stehenblieb. Vorsichtig stieg ich die Leiter hinauf aufs Dach. Jez war dicht hinter mir. Oben angekommen streckte ich ihr die Hand entgegen und half ihr herauf. Dann krochen wir auf Händen und Füßen zur Dachreling, um uns festzuhalten. Der Wind riss und zerrte an uns, und ich zog mein Halstuch vors Gesicht. Von dem Schaffnerelf war weit und breit nichts zu sehen.
»Als wir das letzte Mal auf so einem Waggondach gesessen haben, warst du auf der Flucht vor diesem durchgeknallten Peitschenschwanzkobold«, kicherte Jez. Sie holte tief Luft, atmete aus und warf den Kopf in den Nacken, so dass ihre Haare im Wind flatterten wie eine Himmelskavalleriefahne in den Händen eines vorwärtsstürmenden Soldaten. »Ist schon eine Weile her, dass ich das gemacht habe. Irgendwie hat es mir gefehlt.«
»Wo bleibt er denn?«, sagte ich. So langsam machte ich mir Sorgen, dass er gar nicht mehr kommen würde. Vielleicht hatte er es sich ja anders überlegt. Ich verging fast vor Neugier. Was konnte bloß so wichtig sein, dass er sich mit uns auf dem Dach eines Waggons treffen wollte?
Dann endlich tauchte sein grauer Haarschopf am Ende der Leiter auf. Jez und ich krochen auf ihn zu
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