Will Trent 01 - Verstummt
»Keine Ahnung.«
»Werbung, Werbung, Rechnung, Rechnung.« Er hörte die Umschläge auf den Tisch klatschen, während sie sie durchsah. »Was ist das?«
Will antwortete nicht, aber eigentlich redete sie auch gar nicht mit ihm.
Er hörte sie den Umschlag aufreißen, den Brief herausziehen. »Hübsches Kreuz«, sagte sie. »Ich erinnere mich, dass ich es manchmal an Aleesha gesehen habe.«
Er betrachtete das Gemälde und wünschte sich, es wäre ein Spiegel, der ihm zeigte, was in ihrem Inneren vorging. Vielleicht war es einer. Zwei abstrakte Gemälde, und keins von beiden ergab einen Sinn.
Will spürte, wie sie hinter ihm ihre Hand in seine Jacketttasche steckte. Sie zog seinen Digitalrecorder hervor. »Der ist neu.« Sie stand so nahe bei ihm, dass er die Wärme ihres Körpers fühlte.
Er hörte sie mit der Maschine hantieren und drehte sich um. »Es ist der orangefarbene Knopf.«
Sie hielt ihm den Recorder hin. Ihr Finger lag bereits auf dem Knopf. Sanft drückte er seinen Daumen auf ihren Zeigefinger, und der Recorder sprang an.
»Danke.«
Will konnte sie nicht ansehen. Er drehte sich wieder um und lehnte sich an den Kamin. Sie ging zur Couch zurück und setzte sich. Das Eis im Glas klimperte. Wahrscheinlich hatte sie vergessen, dass es schon leer war.
»Liebe Mama«, las Angie nun vor. »Ich weiß, dass du glaubst, ich schreibe nur, um dich um Geld zu bitten, aber ich möchte dir nur sagen, dass ich von jetzt an nichts mehr von dir will. Du hast immer mir die Schuld gegeben, weil ich weggegangen bin, dabei warst du doch diejenige, die uns verlassen hat. Du warst diejenige, die mich zum Paria gemacht hat. Die Bibel lehrt uns, dass die Sünden der Eltern auf die Kinder zurückfallen. Ich bin die Ausgestoßene, die Unberührbare, die nur mit dem anderen PARIA leben kann, wegen deiner
Sünden.« Angie bemerkte: »Bei der Unterschrift schreibt sie ihren Namen anders: A-L-I-C-I-A anstatt A-L-E-E-S-H-A.«
Will gab ein entrüstetes Geräusch von sich. Sie musste doch wissen, dass sie genauso gut Chinesisch mit ihm reden könnte.
»Sie schreibt ihren Namen korrekt - auf die gebräuchlichere Art - bei der Unterschrift unter diesem Brief. Wahrscheinlich änderte sie die Schreibweise, als sie anfing, auf den Strich zu gehen.« Angie redete weiter. »Laut Poststempel hat sie ihn vor zwei Wochen abgeschickt. Da ist außerdem ein Stempel, der besagt, dass der Brief zurückgeschickt wurde, weil er nicht ausreichend frankiert war. Ich vermute, das Kreuz hat ihn zu schwer gemacht, oder vielleicht ist er auch in einer der Maschinen hängen geblieben.« Sie hielt inne. »Hast du vor, mit ihrer Mutter zu reden? Der Postleitzahl nach zu urteilen, ist das nicht weit weg von hier, vielleicht zehn Meilen. Ich frage mich, ob sie überhaupt weiß, dass ihre Tochter tot ist.«
Will wandte sich ihr zu. Angie hielt den Umschlag in der Hand und drehte ihn um, um sicherzugehen, dass sie auf der Rückseite nichts übersehen hatte. Dann hob sie den Kopf, sah ihn sie anstarren und fragte: »Will?«
»Wenn ich mit einem Fingerschnippen rückgängig machen könnte, dass ich dich kennengelernt habe, dann würde ich es tun.«
Sie legte den Umschlag beiseite. »Wäre mir auch lieber, wenn du das könntest.«
»Was findest du nur an einem Kerl wie diesem?«
»Er kann recht charmant sein, wenn er will.«
Sie meinte Michael. »Passierte es, bevor oder nachdem du herausgefunden hattest, dass er die Mädchen ausnutzte?«
»Davor, du Arschloch.«
Er warf ihr einen scharfen Blick zu. »Ich glaube nicht, dass du im Augenblick das Recht hast, wütend auf mich zu sein.« Sie gab nach. »Ja, du hast recht.« »Und dieser Shelley ist ein Pädophiler?« Sie lächelte, als wäre das lustig. »Und ein Mörder.« »Hältst du das für einen Witz?«
Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und warf ihm dieses neckische Lächeln zu, das bedeutete, dass sie für alles offen war. »Sei nicht böse mit mir, Baby.«
»Lass Sex aus dieser Sache raus.«
»Er ist die einzige Art, die ich kenne, um mit Leuten zu kommunizieren«, witzelte sie, denn das war etwas, das eine Psychiaterin ihr einmal gesagt hatte. Will wusste nicht, ob Angie mit der Frau geschlafen hatte oder nicht, aber die Beobachtung traf natürlich hundertprozentig zu.
»Angie, bitte.«
»Ich habe dir gesagt, dass du heute einen schlechten Zeitpunkt erwischt hast.« Sie stand auf und drückte ihm den Umschlag in die Hand. »Komm, Willy«, sagte sie und zog ihn zur Tür. »Du musst jetzt
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