Will Trent 02 - Entsetzen
Fliesenboden. Faith kniete sich hin und hob die Scherben des zerbrochenen Weinglases auf. Sie dachte daran, das Licht einzuschalten, allerdings erst in der Sekunde, bevor eine Scherbe sie in die Haut stach.
»Verdammt«, murmelte sie und steckte sich den Finger in den Mund. Sie ging zum Spülbecken und ließ kaltes Wasser über die Wunde laufen. Sie schaltete das Licht über dem Becken an und sah zu, wie das Blut sich auf dem Stahl sammelte und fortgespült wurde.
Tränen traten ihr in die Augen, ihre Sicht verschwamm. Sie kam sich blöd vor wegen dieser Melodramatik, aber es war niemand da, der sie fragte, warum sie wegen etwas weinte, das nicht mehr war als eine Schnittwunde, deshalb ließ Faith die Tränen laufen. Außerdem hatte sie genug, worüber sie weinen konnte. Morgen früh wäre der Beginn des dritten Tages seit Emmas Verschleppung.
Was würde Abigail Campano tun, wenn sie morgen aufwachte? Würde der Schlaf ihr ein gewisses Vergessen bringen, sodass sie sich erst wieder daran würde erinnern müssen, dass ihr Kind nicht mehr da war? Was würde sie dann tun? Würde sie an all die Frühstücke denken, die sie ihr gemacht hatte, an all die Fußballtrainingsstunden und die Schulpartys und die Hausaufgaben, bei denen sie geholfen hatte? Oder würden ihre Gedanken sich eher auf die Zukunft als auf die Vergangenheit richten: Examen, Hochzeit, Enkel?
Faith nahm sich ein Papiertuch und wischte sich die Augen ab. Sie erkannte, wie falsch ihr Denken gewesen war. Keine Mutter konnte schlafen, wenn ihr Kind in Gefahr war. Faith hatte selbst viele schlaflose Nächte verbracht, und sie hatte genau gewusst, wo Jeremy war - oder wo er sein sollte. Sie hatte sich den Kopf zerbrochen über Verkehrsunfälle und jugendlichen Alkoholmissbrauch und - Gott bewahre - irgendein junges Mädchen, mit dem er ging und das vielleicht so dumm war, wie sie es in diesem Alter gewesen war. Es war schlimm genug, einen Sohn zu haben, der nur fünfzehn Jahre jünger war als sie, aber einen Enkel zu haben, der dann nur noch einmal sechzehn Jahre jünger war, wäre ein vernichtender Schlag gewesen.
Faith lachte laut bei dem Gedanken und warf das Tuch in den Abfalleimer. Sie sollte ihre Mutter anrufen und sie bemideiden, oder sich wenigstens zum millionsten Mal entschuldigen, aber die Person, die Faith im Augenblick wirklich bei sich haben wollte, war ihr Vater.
Bill Mitchell war vor sieben Jahren an einem Schlaganfall gestorben. Zum Glück war sein Leiden nur kurz gewesen.
Er hatte sich eines Morgens an den linken Arm gefasst und war auf den Küchenboden gefallen, und zwei Nächte später war er dann friedlich im Krankenhaus gestorben. Faiths Bruder war aus Deutschland gekommen. Jeremy war an diesem Tag nicht in die Schule gegangen. Bill Mitchell war immer ein sehr rücksichtsvoller Mann gewesen, und noch im Tod hatte er es geschafft, an die Bedürfnisse seiner Familie zu denken. Sie waren alle bei ihm im Zimmer, als es mit ihm zu Ende ging. Sie hatten alle genug Zeit, sich von ihm zu verabschieden. Faith glaubte, dass nicht ein Tag verging, an dem sie nicht an ihren Vater dachte - an seine Freundlichkeit, seine Stabilität, seine Liebe.
In vielerlei Hinsicht war Bill Mitchell mit der Schwangerschaft seiner Tochter besser umgegangen als ihre Mutter. Er hatte Jeremy vergöttert und die Rolle des Großvaters sehr genossen. Erst sehr viel später fand Faith heraus, warum Bill aufgehört hatte, zu seiner wöchentlichen Bibelstunde zu gehen, und seine Bowling-Mannschaft verlassen hatte. Zu der Zeit hatte er gesagt, er wolle mehr mit seiner Familie zusammen sein und sich mehr um das Haus kümmern. Inzwischen wusste Faith, dass man ihm wegen ihr nahegelegt hatte, wegzubleiben. Faiths Sünde hatte auf ihn abgefärbt. Ihr Vater, ein Mann, der so gläubig war, dass er sein geistliches Amt als Berufung betrachtete, hatte nie mehr einen Fuß in die Kirche gesetzt, nicht einmal zu Jeremys Taufe.
Faith wickelte sich ein Papiertuch um den Finger, um die Blutung zu stoppen. Sie schaltete das Deckenlicht an und holte Besen und Kehrschaufel aus der Kammer. Sie fegte die Scherben zusammen und nahm dann den Staubsauger für die kleineren Partikel. Sie war seit zwei Tagen nicht zu Hause gewesen, die Küche war deshalb schmutziger als normal. Faith fuhr mit dem Sauger über die Fliesen und schob die Bürste in die Ecken.
Sie spülte das Geschirr unter dem Wasserhahn vor und stellte es dann in die Spülmaschine. Sie schrubbte das Becken und steckte die
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