Will & Will
lass euch schwule Jungs jetzt mal ein bisschen allein.« Ich schaue zu dem anderen Will Grayson, der so schwankend dasteht, als würde ein leichter Windstoß ausreichen, um ihn umzuwehen. Ich will etwas sagen, weil er mir richtig leidtut, aber ich weiß nie, was ich sagen soll. Deshalb sage ich einfach, was mir gerade durch den Kopf geht. »Ich weiß, dass das beschissen ist, aber andererseits ist es auch gut.« Er sieht mich an, als hätte ich gerade was absolut Idiotisches gesagt, was natürlich stimmt. »Dass Liebe und Wahrheit immer nah beieinander sind, meine ich. Das eine macht das andere möglich, findest du nicht?«
Der andere Will Grayson schenkt mir vielleicht das Achtel eines Lächelns und dreht sich dann wieder zu Tiny, der eindeutig
der bessere Therapeut ist, das muss man gerechtigkeitshalber sagen. Die schwarze Plastiktüte mit Mano a Mano hat ihren Witz verloren, deshalb lasse ich sie neben Tiny und Will auf den Boden fallen. Sie bemerken es nicht mal.
Jane steht inzwischen auf Zehenspitzen an der Bordsteinkante und beugt sich weit auf die Straße vor, die mit lauter Taxis verstopft ist. Ein paar Collegejungs gehen an ihr vorbei, mustern sie, einer blickt mit hochgezogenen Augenbrauen seinen Nebenmann an. Ich denke immer noch über die Verbindung von Liebe und Wahrheit nach … und habe das Bedürfnis, ihr die Wahrheit zu sagen, die ganze, widersprüchliche Wahrheit … denn wenn ich es nicht tue, bin ich dann nicht auch wie dieses Mädchen, irgendwie? Bin ich dann nicht wie dieses Mädchen, das so getan hat, als wäre es Isaac?
Ich geh zu Jane und versuche, sie hinten am Ellenbogen zu berühren, aber meine Berührung ist zu zaghaft und ich erwische nur ihre Jacke. Sie dreht sich zu mir um, und ich sehe, dass sie immer noch telefoniert. Ich mache eine Geste, die signalisieren soll: »Hey, kein Stress, telefonier, so lang du willst!« Aber wahrscheinlich signalisiere ich damit nur: »Hey, guck mal! Ich hab Spastikerhände!« Jane hebt einen Finger hoch. Ich nicke. Sie spricht weich und leise ins Telefon. Ich höre, wie sie sagt: »Ja, ich weiß. Ich auch.«
Ich mache auf dem Bürgersteig ein paar Schritte rückwärts und lehne mich an die Backsteinmauer zwischen Frenchy’s und dem geschlossenen Sushi-Restaurant daneben. Zu meiner Rechten unterhalten sich Will und Tiny. Zu meiner Linken redet Jane. Ich ziehe mein Handy raus und tu so, als würde
ich eine SMS abschicken wollen, aber ich scrolle mich nur durch mein Telefonverzeichnis. Clint. Dad. Jane. Mom. Leute, mit denen ich mal befreundet war. Leute, die ich irgendwie kenne. Tiny. Nach dem T nichts mehr. Nicht gerade viel für ein Handy, das ich seit drei Jahren habe.
»Hey«, sagt Jane. Ich blicke auf, stecke das Handy ein und lächle sie an. »Tut mir leid wegen dem Konzert«, sagt sie.
»Ja, schon in Ordnung«, antworte ich, weil es das auch wirklich ist.
»Wer ist das?«, fragt sie und deutet auf den anderen Will Grayson.
»Will Grayson«, sage ich. Sie blickt mich verwirrt an. »Ich hab in dem Sexshop einen Jungen namens Will Grayson kennengelernt«, sage ich. »Ich war da drinnen, weil ich meinen falschen Ausweis benutzen wollte, und er war da drinnen, weil er seinen falschen Freund treffen wollte.«
»Hätte ich gewusst, dass so was passiert, wär ich nicht auf das Konzert.«
»Ja«, sage ich und versuche, nicht genervt zu klingen. »Lass uns ein bisschen rumlaufen.«
Sie nickt. Wir gehen vor zur Michigan Avenue, der Magnificent Mile, an der in Chicago alle großen Kaufhäuser und die riesigen Läden der Ketten liegen. Natürlich hat jetzt alles zu und die Touristen, die tagsüber die breiten Bürgersteige füllen, sind alle in ihren Hotels, die uns fünfzig Stockwerke hoch überragen. Die Obdachlosen, die die Touristen anbetteln, sind auch fort, und im Wesentlichen gibt es nur Jane und mich. Man kann sich nicht die Wahrheit sagen, ohne miteinander zu reden, deshalb erzähle ich ihr die ganze Geschichte, bemühe mich, alles superwitzig zu schildern, bemühe
mich, mein Erlebnis großartiger klingen zu lassen, als ein MDC-Konzert jemals sein könnte. Und als ich damit fertig bin, folgt eine Pause, bis Jane sagt: »Kann ich dich mal was fragen? Was völlig anderes?«
»Ja, klar.« Wir gehen an Tiffany vorbei. Das blasse gelbe Licht der Straßenlampen beleuchtet die Schaufenster gerade hell genug, dass ich durch das Panzerglas und das Sicherheitsgitter die Nachtdekoration erkennen kann – die grauen Samtumrisse eines Halses, an dem
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