Wille zur Macht
Aber die Wolken hatten ein Einsehen, und endlich erkannte er die Stelle wieder, an der er vom Fluss aus hinaufsteigen musste. Wenig später verbarg ihn das hohe Gras vor jedem Blick. Er benutzte nicht den Pfad, sondern arbeitete sich einige Meter daneben voran. Er erreichte das Brigadenhaus an dessen Rückseite. Alles blieb ruhig um ihn herum. Er versuchte von seiner Armbanduhr die Zeit abzulesen. Es war schon zwanzig nach sechs. Er schlich nach vorne und erklomm die zwei Holzstufen auf die Veranda.
„Na, hast du heute Überstunden gemacht?“
Dunker erschrak und riss die AK nach vorne, erkannte dann aber, dass es nur Steffi war, die auf der Veranda eine Zigarette genoss. Er pustete die Luft laut hörbar aus. „Mensch, du kannst mich doch nicht so erschrecken!“
„Papperlapapp!“ antwortete sie, lehnte sich zurück an die Wand und ignorierte ihn.
Christian Dunker ging ins Haus, stellte die AK an ihren Platz im Gang und begab sich ins Bett. Wer die letzte Nachtwache hatte, konnte bis elf Schlafen. Aber er war viel zu aufgeregt, um einschlafen zu können. Er hörte, wie die anderen aufstanden, sich anzogen, leise miteinander tuschelten und dann in den Anbau verschwanden, um ein wenig Wasser zum Zähneputzen zu schöpfen. Dann wurde es ruhig im Haus. Dunker dachte über das nach, was er während seiner Nachtwache gesehen hatte. Deutete er das Geschehene vielleicht falsch? War es vielleicht gar kein Blut gewesen, was er im Gesicht der Frau gesehen haben wollte? Und griff der Milizionär gar nur zur Waffe, weil der Blitz des Photoapparates ihn erschreckt hatte? Obwohl das Geschehen erst kurze Zeit zurücklag, zweifelte Christian Dunker schon jetzt an seiner Wahrnehmung. Ein Ergebnis der damit verbundenen Aufregung. Und der Angst. Zu gern würde er jetzt den Film entwickeln lassen, um dieses eine Photo genauer zu studieren. Entweder, um sich anschließend beruhigt zu fühlen, oder aber um sich Gedanken zu machen, was er damit tun sollte. Vielleicht war das Bild aber auch gar nichts geworden. Er überlegte, Renate einzuweihen. Sie war schließlich hier am erfahrensten und könnte ihm sicher einen Rat geben. Aber war das richtig? Auch sie war für ihn in dieser Umgebung nicht einzuschätzen. Das Vertrauen in die Brigade verließ ihn. Er entschloss sich, anders zu handeln. Er drehte sich in seinem Schlafsack herum zu seinem Parka, nahm den Photoapparat aus der Brusttasche und betrachtete die Bildanzeige. Sechsundzwanzig Bilder hatte er gemacht, zehn waren also noch auf dem Diafilm. Er spulte den Film ans Ende, öffnete die Kamera und nahm die Hülse heraus. Dann legte er einen neuen Film ein und photographierte sechsundzwanzig Mal im Brigadenhaus herum. Anschließend verstaute er die Kamera wieder im Parka. Die entnommene Filmhülse steckte er in die Hosentasche.
Im Bett wollte und konnte er jetzt nicht länger bleiben. Er fand keine Ruhe. Deshalb stand er auf und ging in den Anbau. Die Köchin der Brigade war gerade damit beschäftigt, den Tisch mit Tellern, Bestecken und Bechern zu decken. Auf dem Feuer in der Kochkiste stand schon ein großer Topf mit Reis und Bohnen und daneben ein Kanister mit dampfendem Kaffee. Es war gleich acht Uhr, und die Brigade würde nach ihrem ersten Arbeitseinsatz auf der Baustelle zum Frühstück zurückkehren.
Christian Dunker schöpfte mit seinem Becher heißen Kaffee aus dem Kanister und setzte sich an den großen Holztisch. Juanita erzählte ihm beim Umrühren des Reises etwas über einen Schaden an ihrem Haus. Aber aufgrund ihrer schlechten Aussprache bekam er nur die Hälfte mit. Das Spanisch, das die Menschen in den Bergen sprachen, war sehr schwierig zu verstehen. Sie verschluckten Konsonanten und ließen manche Endungen, die Aufschluss über die grammatikalische Zeit ausdrücken sollten, einfach weg. Dunker schlürfte seinen Kaffee und starrte ins Feuer der Kochkiste.
Endlich kam die Brigade von der Baustelle zurück. Verwundert sahen sie Dunker schon am Tisch sitzen, schenkten diesem Umstand aber wenig Bedeutung, nachdem er erklärt hatte, dass er nicht hatte schlafen können. Nachdem sich alle mit Reis und Bohnen satt gegessen hatten, schloss sich Dunker den anderen an und ging mit auf die Baustelle.
Es war schon am Morgen ziemlich heiß geworden. Die Sonne brannte auf sie hinab, und die meisten arbeiteten im T-Shirt oder mit freiem Oberkörper. Dunker war heute für den Nachschub an Balken und Brettern eingeteilt. Am Rande des Bauplatzes lagerten sie nach Länge und
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