Willi von Bellden (German Edition)
vor sich ging.
Äußerst vorsichtig zog Tanner an der hölzernen Lade, die quietschend nachgab. Darin lagen ein Bündel Briefe, verschnürt mit einer Kordel, und eine Metallkassette, die ebenfalls verschlossen war. Mithilfe des zweiten Schlüssels öffnete Tanner auch diese. Sobald er den Deckel an der Metallschlaufe hochgezogen hatte, war ich mir sicher, was er gleich herausholen würde. Und genauso war es. Bello sei Dank ließ Tanner sich im selben Moment auf dem Boden nieder, da er dort mehr Platz hatte. So musste ich mich nicht anstrengen, um alles genau mitzubekommen. Zwei Sekunden später hielt er ein Bild in den Händen, welches das gleiche Motiv zeigte wie die Fotografie, die wir in Norberts Appartement gefunden hatten (besser gesagt, ich hatte sie gefunden): Mathis und Norbert, die zu einem unbekannten, leblos wirkenden Mann hinunterschauten. Mein Herrchen stöhnte auf. Hinter der Fotografie befand sich zu unserem Erstaunen noch eine weitere. Zuerst entdeckte ich Mathis, Norbert, Toni, den unbekannten Mann, dieses Mal gesund und munter, und eine mir ebenfalls unbekannte lachende, braunhaarige Frau, die mich jedoch ein wenig an irgendjemanden erinnerte, der mir gerade nicht einfiel. Sie alle standen eng umschlungen in einer Reihe vor dem Hintergrund einer Mauer aus Sandstein und schauten fröhlich in die Kamera. Einzig am Rande des Bildes war noch eine Person auszumachen, von der aber nur der Rücken und ein Teil des Kopfes zu sehen waren, sodass man auf den ersten Blick nicht sagen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Mit etwas Fantasie hätte man dieser Person blonde Haare zuschreiben können, aber sicher war es aus dieser Perspektive nicht zu erkennen. Man konnte aber davon ausgehen, dass die Fotos vor etwa fünfzehn Jahren aufgenommen worden waren. So schätzte ich jedenfalls anhand der Mode und des Aussehens der Beteiligten, die ich kannte. Tanners Hände, mitsamt den Bildern, fielen auf seine Oberschenkel, während er gedankenverloren an die Wand starrte. Ich ahnte, was in ihm vorging, nämlich dass es verdammt schwerfiel, ein Fazit aus dem zu ziehen, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte. Scheinbar waren wir beide von dem undefinierbaren Gefühl ergriffen, dass an dieser ganzen Geschichte etwas Grundlegendes nicht stimmen konnte, doch wir entdeckten den roten Faden nicht, der, da war ich mir sicher, irgendwo direkt vor uns lag.
Tanner legte die Fotografien zur Seite und nahm sich die Briefe vor.
Gerade als er den ersten aus dem Kuvert gezogen hatte, um ihn glatt zu streichen und zu lesen, klingelte sein Handy. Liebevoll wollte er Anny begrüßen, doch seine Stimme brach schon bei den ersten Worten ab, weil sie ihn hysterisch unterbrach. Angesichts der immensen Lautstärke von Anny konnte ich den genauen Wortlaut verstehen. Die französische Polizei hatte Tonis Auto gefunden, mitsamt seinem Handy. Versenkt in einem Weiher, unweit von Vix, dem Étang de la Sablière.
Es war ein Schock für mein Herrchen und mich, da wir immer noch damit gerechnet hatten, Toni irgendwann lebend aufzuspüren. Doch mit dem Auto, das wohl aus dem Wege geschafft worden war, schwanden auch unsere Hoffnungen. Der Schluss lag nahe, dass Toni einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Falls dies wirklich zutraf, dann waren auf jeden Fall Norbert, Mathis, der unbekannte leblose Mann und die unbekannte Frau darin verwickelt. Nicht zu vergessen die Person, welche die Bilder fotografiert hatte, falls diese nicht mit einem Selbstauslöser aufgenommen worden waren. Über sie hatten wir noch keinerlei Informationen.
Nach dem Telefonat widmete Tanner sich so gut er konnte den Briefen, die sehr sorgfältig verschnürt waren. Seine Hände zitterten, als er sie vor sich ausbreitete und anfing zu lesen.
Ich dankte Bello, dass mein Herrchen sich schon in einem fortgeschrittenen Alter befand, statt lautlos die gelesenen Wörter im Kopf zu vereinigen, las er sie leise vor. Es handelte sich zweifelsfrei um Liebesbriefe. Niemals wurde der Name der Schreiberin erwähnt, dafür waren sie jedoch klar und deutlich an Toni gerichtet. Allesamt beinhalteten sie Liebesbezeugungen und die Beschreibung unterschiedlich vollzogener Liebesakte, verbunden mit erregenden Emotionen der Schreiberin. Ich würde sie als äußerst prekär beschreiben. Zuerst dachte ich, sie könnten wohl von Selma stammen, doch je mehr ich hörte, desto unwahrscheinlicher war es, dass sie diese verfasst hatte. Es musste sich also um eine andere Frau in
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