Willkommen im Wahnsinn: Roman (German Edition)
Handrücken über meine Augen.
Hassan, der im Erdgeschoss wohnt, öffnet seine Tür einen Spaltbreit, und ich höre die Geräusche eines Fernsehers. »Okay?«, fragt er.
»Hi, Hassan, danke fürs Kümmern – mir geht’s gut«, schnüffle ich und lächle gezwungen.
»Okay«, wiederholt er.
»Sind Sie auch okay? Wie geht’s den Kindern?«
»Okay.« So verlaufen die meisten unserer Gespräche. Wahrscheinlich versteht er nur ein paar englische Wörter. Aber jedes Mal, wenn wir uns im Hausflur treffen, begrüßt er mich höflich und schüchtern, ebenso wie seine Frau und die vier Kinder mit den Mandelaugen. »Verreist?«, fragt er. »Wieder da?«
»Ja, das ist richtig, jetzt bin ich wieder da. Für immer.« Und dann sperre ich meine Tür auf und betrete die dunkle, kalte Wohnung.
27
Am nächsten Morgen, kurz bevor ich das Büro erreiche, überrascht mich eine SMS von Camilla, die mich um ein sofortiges Treffen in einem Café am Sloan Square bittet.
Nicht dass mich ihre Wahl des Sloan Square verblüffen würde. Aber ich verstehe nicht, warum sie mich außerhalb des Büros sehen will. Von einer bösen Ahnung erfüllt, spüre ich, wie sich mein Magen zusammenkrampft.
Vor dieser Nachricht habe ich mir eingeredet, ich würde erfolgreich in mein früheres Leben zurückkehren. Meine Morgenroutine funktionierte – trotz all der Wochen mit Randy – sofort wieder. Statt sie langweilig und trist zu finden, begrüßte ich sie wie eine alte Freundin. Hallo, Morgenjogging rund um den Peckham Rye Park. Hallo, Radio 4 im Hintergrund. Hallo, eigenes Bad, eigenes Schlafzimmer, eigener Schrank. Hallo. Nachdem ich Jennys Kleider in den Wäschekorb gestopft hatte, suchte ich an diesem Morgen mit besonderer Sorgfalt aus, was ich anziehen würde – als wäre jedes einzelne Teil ein kugelsicherer Schutz, der mich vor Attacken bewahren sollte. Ein Bleistiftrock, ein Blazer mit Schulterpolstern über einem T-Shirt. Dazu ein untadeliges Make-up. Niemand soll mir ansehen, wie sehr mich die ganze Affäre mitgenommen hat. Alle SMS auf
meinem Handy habe ich beantwortet und die großzügigen Angebote zweier überregionaler Zeitungen für intime Enthüllungen abgelehnt. Meine Weste ist rein. Heute beginnt mein Leben neu. Vielleicht.
Camilla ist noch nicht da, und so bestelle ich bei dem jungen Kellner mit dem gegelten Haar einen Cappuccino. Dann schaue ich mich im Café um, das vom Boden bis zur Decke gekachelt ist. Dadurch entsteht der Eindruck, man würde in einem schicken Swimmingpool ohne Wasser sitzen. Am Fenster kichern zwei Schulmädchen ausgelassen über ihrem Kaffee und werfen blonde Mähnen über die Schultern. Was machen sie hier zu so früher Stunde in der letzten Ferienwoche? Eine alte Lady mit Margaret-Thatcher-Frisur nippt an ihrem Tee und starrt ins Leere. Unter dem Tisch schnarcht ihr schwarzer Mops. Dann bemerkt sie meinen Blick und kräuselt die rot bemalten Lippen. Ich lächle sie an, und sie neigt den Kopf, ein höflicher Gruß.
Wenig später trifft Camilla ein, sie trägt heute nichts außer ihrer roten Lacklederhandtasche bei sich. Aus einem unerklärlichen Grund erschreckt mich die Abwesenheit ihrer üblichen Lasten mehr als die Begegnung an sich. Während ihr der Kellner einen Stuhl zurechtrückt, fallen mir ihre sorgsam manikürten Hände auf. Ungewöhnlich. Da ist eindeutig was im Busch. Mit geschäftsmäßiger Effizienz nimmt sie ein kleines Notizbuch – rosa Leder – aus ihrer Tasche und zieht einen silbernen Bleistift aus dem Buchrücken.
Nachdem sie das Büchlein geöffnet hat, schaut sie mich ernsthaft an. Irgendwie fühle ich mich, als hätten wir die Rollen getauscht, ohne dass ich darauf hingewiesen worden
wäre. Jetzt ist sie organisiert und tüchtig, und ich bin die ahnungslose Chaotin. Vielleicht klebt sogar ein unbemerkter Babybreifleck auf meinem Rock.
»Also?« Schließlich bricht sie das Schweigen. »Würdest du mir bitte ganz genau erzählen, was passiert ist?«
»In welcher Hinsicht...?«, erwidere ich unsicher. In diesen Tagen scheine ich mich jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache, noch stärker zu belasten. Freiwillig werde ich nur verraten, was sie ohnehin weiß.
»Fangen wir mit Randy Jones an.« Camilla liest vor, was in ihrem Notizbuch steht. »›Nach Turbulenzen um Kiwis, Declan Costelloe und Jemima ist Lizzy wortlos von Randys After-Show-Party weggelaufen.‹«
»Diese Flucht bedaure ich. Plötzlich war ich in einer – einer Situation, die ich nicht meistern konnte. Ich
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