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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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für Sie.« Mrs. McMurtry zog einen Umschlag aus Ihrer Gartenschürze. »Ein Mr. Philip Kamin bat mich, Ihnen das zu geben.«
    Mit zitternden Händen riß er den Umschlag auf. Darin befand sich ein Brief: Du wachst besser bald auf, Sandy. Du bist in ernster Gefahr. Vertraue Goodbody oder Milligan nicht. Dorff ist okay, aber er ist auch nicht über alles informiert. Ich tue für dich, was ich kann, doch letztendlich stehen wir alle allein, nicht wahr? Ich würde dir raten, diese Tabletten sofort zu nehmen. Der Brief war mit Phil unterzeichnet.
    Phil, dachte er. Sein alter toter Freund. Doch Milligan war auch sein Freund gewesen. Warum hatte Phil Milligan getötet, wenn er wirklich auf seiner Seite stand und von jenseits des Grabes nach ihm griff, um ihm einen Eindruck der Wahrheit zu vermitteln?
    Er drehte den Brief herum. Auf der anderen Seite war ein Postskriptum. Es besagte: P.S.: Oh, werde doch endlich klug, Sandy. Milligan ist noch dein Freund. Er und Miss Goodbody spielen Räuber und Gendarm mit dir. Fall nicht darauf herein. Und Kopf hoch, die Dinge stehen schon schlimm genug, ohne daß du solche Trübsal verbreitest. PK
    Mrs. McMurtry beobachtete ihn neugierig. »Stimmt irgend etwas nicht, mein Lieber?« fragte sie in mütterlichem Tonfall.
    »Nein, nein«, sagte er schnell und faltete den Brief zusammen. »Alles in Ordnung.« Die PK-47-Tabletten wogen schwer in seiner Tasche, doch er war noch nicht bereit, sie zu nehmen.
    Phil will nicht, daß ich Trübsal blase, dachte er. Er ist tot und glaubt, ich hätte einen zu pessimistischen Eindruck der Dinge.
    Dieser Gedanke war deprimierend.
     
    Dorff hatte schon früh am Morgen eine Telekonferenz. Er saß am Kopf des Konferenztisches, als die Teleroboter – große, ungeschlachte Inorgs mit Bildschirmen anstelle von Köpfen – hereinmarschierten und Platz nahmen. Die Bilder ihrer fernen Manager flimmerten, von Satelliten aus ihren Heimatländern übertragen, blau auf den Bildschirmen.
    Heute waren anwesend: Señor Velasquez aus Argentinien, Herr Altmeister aus der Deutschen Republik und Jerome Hunt aus Südafrika. Abwesend war Kommissar Gavronsky, der die beiden Erhalter in den Sowjetischen Sozialistischen Republiken führte. Es gab Gerüchte über einen weiteren Erhalter in Rotchina, doch die kommunistische Bürokratie dort weigerte sich, sie zu bestätigen oder überhaupt zu kommunizieren.
    Jerome Hunt eröffnete das Gespräch, indem er sich räusperte und ankündigte: »Ich habe mehr über die Parallelen unserer Erhalter und der kabbalistischen Vorstellung der sieben Gerechten herausbekommen, die die Welt vor den Augen Gottes erhalten.«
    Ein allgemeines Stöhnen ging durch die Reihen der Teleroboter. Hunt war ein schlanker, verhungert wirkender Mann mit der verkniffenen Seele eines Akademikers. Dorff hatte oft den Eindruck, der Südafrikaner betrachte die Erhalterin seines Landes hauptsächlich als Gelegenheit, eine endlose Reihe von Vorträgen über Phänomenologie zu halten.
    Vielleicht war er aber auch nur peinlich berührt, daß ihre Erhalterin – eine dicke, umgängliche Frau Anfang fünfzig – eine Schwarze war. Vielleicht wollte er auf diese Art und Weise vermeiden, sich mit den Folgen dieser Tatsache zu befassen.
    »Fahren Sie fort«, sagte Dorff.
    Hunts Teleroboter hob einen imaginären Stapel Papiere hoch und blätterte sie durch. »Wenn wir die Hypothese akzeptieren, daß die Realität durch den Konsens aufrechterhalten wird, das heißt durch unsere Wahrnehmung davon, dann müssen wir ebenfalls akzeptieren, daß es nicht nur die Aufgabe einiger auserwählter weniger – unserer Erhalter – ist, sondern die eines jeden von uns, die Realität aufrechtzuerhalten. Genauso, wie man im Mittelalter der Meinung war, alle Menschen seien zur Tugend verpflichtet, wenngleich sie in ihrer reinen Form nur von einigen wenigen ausgeübt wurde. Von den ›Heiligen‹, wenn Sie so wollen.
    Indem wir die Kontrolle also einer Handvoll Erhalter überlassen, erfahren wir also ein kollektives Versagen der Seelenstärke. Einen Ausverkauf der Verantwortung unserer Existenz sozusagen.«
    Als Hunt weitersprach, ertappte sich Dorff, wie seine Aufmerksamkeit nachließ. Er bemerkte, daß Velasquez’ Teleroboter wie üblich schon unruhig wurde. Man konnte unmöglich sagen, was vor sich ging, doch es sah so aus, als würde der Mann einen Bleistift nach dem anderen nehmen und zerbrechen. Pro Sitzung hunderte davon.
    »Der theologische Imperativ wäre also …«
    Dorff fragte

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