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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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gegangen wäre, hätte sich Mr. Astor nicht mit irgendeinem zweitklassigen amerikanischen Institut zufriedengegeben. Wir hätten uns direkt ans Tibetanische Zentrum gewandt. Die Tibeter haben jahrtausendelange Erfahrung mit der Wiedergeburt.« Er schnaubte wieder. »Aber bedauerlicherweise ist Mr. Astor das, was man in früheren Zeiten einen Patrioten genannt hätte. Als das Wort ›Patriot‹ noch einen Sinn ergab.«
    Er versank in brütendes Schweigen. Valentin suchte Stellas Blick, und sie lächelte ihm aufmunternd zu. Plötzlich mußte er an Saul Schomons Ratschlag denken. Würde Stella tatsächlich vor Gericht bezeugen, daß er mit ihr geschlafen hätte? Doch er wußte, daß jeder Gefallen seinen Preis hatte, und er ahnte, welchen Preis Stella verlangen würde. Schließlich liebte sie ihn, und in der Liebe gab es keine Regeln, keine Beschränkungen, keine Moral.
    Ich kann es nicht, sagte sich Valentin. Ich bin nicht dafür geschaffen, von einer Beziehung in die andere umzusteigen, als ob man einen Schwebebus wechselte. Ich muß diese Sache allein durchstehen. Ganz gleich, was es kostet.
    Der Lift hielt. Sie stiegen aus und gingen durch einen breiten, hellerleuchteten Korridor, der vergessen ließ, daß sie sich achtzig Meter unter der Erdoberfläche befanden. Eine junge Frau kam ihnen entgegen, blond und langbeinig, in ihrer halbtransparenten Schwesterntracht wie die fleischgewordene Versuchung. Sie warf Valentin einen koketten Blick zu, und er lächelte mechanisch. Vor dreißig Jahren, während der Fundamentalistischen Revolution, hätte allein dieser Blick genügt, um sie auf den Scheiterhaufen zu bringen, aber die Zeiten hatten sich geändert, das moralische Pendel war weit in die andere Richtung ausgeschlagen, und die jungen Leute hatten ein Recht darauf, ihr Leben – und ihre Geschlechtlichkeit – zu genießen.
    Valentin beneidete sie.
    Und er wußte gleichzeitig, daß ihm dieser Lebensweg versperrt blieb. Niemand, der in der Ära der fundamentalistischen Moralvorstellungen, der sexuellen Repression vor der Entwicklung des Aids-Gegenmittels, aufgewachsen war, konnte so ungezwungen wie diese jungen Leute mit seiner Körperlichkeit umgehen. Die Angst vor der Seuche, die den Fundamentalisten ihren Siegeszug ermöglicht hatte, war tief im Unterbewußtsein der älteren Generation verankert.
    Vielleicht sollte ich mich vor Gericht darauf berufen, dachte Valentin in einem Anflug von Galgenhumor. Höhere Gewalt. Die perverse Monogamie als Folge der Aids-Angst. Ich bin ein spätes Opfer der christlich-fundamentalistischen Sexualrepression … Aber die Deutschen würden dafür kein Verständnis haben. Schließlich stammte der Aids-Impfstoff aus den Gen-Labors des VEB Pharmazeutik, und das Wiedervereinigte Deutschland hatte sich am konsequentesten der sexuellen Befreiung in der Post-Aids-Ära hingegeben … weil sie in geradezu idealer Weise Berlins wachstumsbesessener Bevölkerungspolitik entsprach.
    Stewart Croft hatte die junge Krankenschwester mit sichtlichem Mißmut betrachtet. »Ich begreife nicht, wie Bernstein so etwas dulden kann«, beklagte er sich bei Stella Tschun, Valentin bewußt ignorierend. »Zustände wie in Deutschland! Von der Ostküste ist man so etwas ja gewohnt, aber jetzt breiten sich diese verworfenen Sitten auch in Kalifornien aus. Zumindest in diesem Institut sollte man auf die Einhaltung von Anstand und Moral achten. Schon aus Ehrfurcht vor den Toten.« Kopfschüttelnd sah er der leichtbekleideten Schwester nach. »Dabei ist Bernstein strenggläubiger Jude. Aber vielleicht gebietet er deshalb den unmoralischen deutschen Sitten keinen Halt. Juden und Deutsche verstehen sich in letzter Zeit ja prächtig.«
    »Wir haben die Erfahrung gemacht, daß Sterbende eine sinnlich anregende, angenehme Atmosphäre bevorzugen«, sagte Stella sachlich.
    »Entblößte Euter!« schnaubte Croft. »Ist es das, was Sie unter ›sinnlich anregender Atmosphäre‹ verstehen?«
    »Mr. Astor«, erwiderte Stella lächelnd, »hat genau aus diesem Grund unser Institut aufgesucht.«
    Sie öffnete die Tür zur Servicezone der Sterbesuite; das Wispern medizinischer Apparate umfing sie. Über die Bildschirme und Kontrollmonitoren an den Wänden flimmerten in geometrischen Kurven und algorithmischen Zahlenreihen die neuesten Daten über den Zustand des Patienten, der wie ein Fötus gekrümmt in der Eisernen Gebärmutter lag. Am Terminal des Robodocs stand Janosz, der Chefarzt des Instituts, ein unscheinbarer blasser Mann,

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