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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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wie eine gläserne Blüte aus seiner Faust hervor. »Hier«, sagte er mit schriller Stimme und kämpfte um Selbstbeherrschung, während er die Luft damit durchschnitt, Zentimeter vor Wills zurückzuckendem Gesicht, »schneiden Sie sich damit die Kehle durch – oder ist es Ihnen lieber, es geschieht von Chirurgenhand?«
    Niemand rührte sich. Dab sah aus, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden. Charlies Augen funkelten vor Aufregung, und ein roher, gleichgültiger Ausdruck breitete sich auf seinen Zügen aus. Wills Kopf fühlte sich an, als schwebte er losgelöst vom Körper.
    Danach ging alles sehr schnell. Die Pfleger trafen ein und eskortierten Charlie aus dem San; mit sich nahm er des Doktors Warnung, nie wieder einen Fuß aufs Gelände zu setzen, außer er wollte strafrechtliche Verfolgung riskieren. Eine Schwester wischte die Glasscherben auf. Der Doktor schritt auf und ab. Will ließ den Kopf hängen. Schließlich, nachdem die Schwester gegangen war und der Doktor Zeit gehabt hatte, sich zu fassen, schickte er Dab aus dem Zimmer, schloß leise hinter ihm die Tür, zog den Stuhl ans Bett und setzte sich auf die Kante. »Mr. Lightbody«, begann er, und Will spürte die Spannung in der Luft, als der Doktor darum kämpfte, Haltung zu bewahren, »solange Sie unter meiner Obhut sind … und jetzt von hier fortzugehen wäre reiner Selbstmord, wiewohl Ihnen Ihr Leben piepegal zu sein scheint – Sie wollen doch leben, oder, Sir?«
    Will nickte.
    »Wie ich bereits sagte, solange Sie unter meiner Obhut sind, werden Sie dieses Haus unter keinen Umständen verlassen, und Sie werden keine Besuche empfangen, außer von ein paar ausgewählten Patienten – sollte Ihr Zustand es gestatten. Vorläufig beschränke ich Ihre Aufenthaltserlaubnis auf Ihr Zimmer, den Speisesaal, die Turnhalle und die Baderäume. Sie sind weiterhin auf abführende Diät gesetzt, und morgen früh beginnen Sie als erstes mit Ihrem vollen Übungsprogramm. Ist das klar?«
    Es war klar. Will war auf frischer Tat ertappt worden, und aller Kampfgeist war aus ihm gewichen.
    Der Doktor betrachtete ihn, als wäre er ein interessanter Fleck unter dem Mikroskop. Es herrschte Schweigen. »Kennen Sie Sir Arbuthnot Lane?« sagte er schließlich. »Nein? Das habe ich auch nicht erwartet.« Er studierte einen Augenblick lang seine Fingernägel, dann blickte er scharf auf. »Nun, Sir, er ist zufällig einer der bedeutendsten Ärzte der Welt, jetzt Mitglied des Royal College of Surgeons, London, und er hat eine chirurgische Technik perfektioniert, um die Motilität zu verbessern und die oft verhängnisvollen Folgen der Autointoxikation zu beheben. Laien ist die Operation – eine Bauchoperation, um einen Teil des unteren Darms zu entfernen, wo die Stasis für gewöhnlich auftritt – bekannt als ›Lanes Stich‹. Sie haben sicherlich davon gehört?«
    Will konnte ihn nur anblinzeln. Er war noch immer betrunken, sturzbetrunken, aber seine Hochstimmung hatte sich ganz und gar verflüchtigt. Er mochte die Wendung nicht, die das Gespräch nahm. Plötzlich hatte er Angst, und die wütende Faust in seinem Magen hatte ihn unvermutet wieder gepackt.
    »Macht nichts«, sagte der Doktor, und er hielt die Hände hoch, um erneut seine Fingernägel zu bewundern. Die Nägel waren glatt, makellos, die Finger geschmeidig und ausdrucksvoll: Chirurgenfinger. »Ich habe meinen eigenen ›Stich‹«, sagte er nachdenklich, »obwohl ihn noch niemand ›Kelloggs Stich‹ nennt, soweit ich weiß, noch nicht, noch nicht … und meine Technik hat unzählige Patienten, die an schwerer Autointoxikation erkrankt waren, sogar todgeweihte Patienten von den Symptomen befreit, unter denen Sie leiden. Was ich damit sagen will, Sir«, und der Doktor stand auf und sah ihn lange, eingehend, nahezu liebevoll an, »ist, daß ich Sie gleich nach Neujahr für die Operation vorgesehen habe.«
    Dann beugte er sich vor und griff nach der Lampe, ein heiteres, selbstzufriedenes Lächeln auf den Lippen, und schaltete das Licht aus. »Schlafen Sie gut«, sagte er.

6.
BESCHEIDENE ANFÄNGE
    Es war ein Keller. Feldstein und Mörtel, gestampfter Boden, ein Geruch wie nach korkendem Wein. Das übliche Durcheinander von Gerümpel – ein alter Kinderwagen, verrostete Gartengeräte, eine Kohlenschaufel mit abgebrochenem Griff. Der Dreck war pulverisiert, körnig, uralt – Staub –, und die mumifizierte Leiche einer Maus mit erbärmlich abgewinkelten nackten Vorder- und Hinterpfoten lag mitten im Raum. Charlie

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