Willkommen in Wellville
zuversichtlich – leidlich zuversichtlich jedenfalls –, daß der kleine Leuteschinder, dem der Laden gehörte, ihn nicht wiedererkennen würde. Dennoch, als er der breitschultrigen alten Dame mit dem aufgemalten Schnurrbart zusah, wie sie bei dem verhängnisvollen Mittagessen – ironischerweise Austern und Schaumwein –, das dem Stück den Titel verlieh, Höllenqualen litt, schaute er sich ab und zu verstohlen um.
Er fühlte sich irgendwie unbehaglich, und Mrs. Hookstratten war kein Trost. Sie schien merkwürdig distanziert, als stünde eine Wand zwischen ihnen, und wenn sie bei einer der wenigen komischen Szenen des Stücks lachte, dann blieb ihr das Lachen fast im Hals stecken. Und auch als sie ihn am Morgen begrüßt hatte, war ihr Lächeln unsicher gewesen, und irgend etwas an der Art, wie sie sich hielt, wie sie ihn ansah, gefiel ihm nicht. Hatte sie Verdacht geschöpft? War sie aufgrund eines scheußlichen, unglücklichen Zufalls an der Fabrik vorbeigefahren und hatte ihre wahren Insignien gesehen? Hatte sie mit irgend jemandem gesprochen? Immerhin war da ja die Sache mit George Kellogg – er hatte in jener verregneten Nacht das Ganze beinahe zu Fall gebracht, als er, sturzbetrunken und nach Schnaps stinkend, um Kleingeld bettelte und unter dem Regenschirm spitze Bemerkungen machte –, aber Charlie hatte ihr alles erklärt, gewissenhaft und ausführlich. (Sie waren von dem Kerl betrogen, reingelegt worden, das war alles, sie waren hereingefallen auf seinen Namen und die philanthropische Mission, der sich sein Vater verschrieben hatte – bis sie seine Schwäche für die Flasche entdeckten. Nun, er und seine Partner hatten die Angelegenheit besprochen und waren zu dem Schluß gekommen, daß sie diese Art Verhalten einfach nicht gutheißen konnten, und sie hatten beschlossen, auf den Namen Kellogg zu verzichten – von jetzt an hieß die Firma schlicht und einfach nur noch Per-Fo. Und war es ihr so nicht auch lieber? Schließlich war die Öffentlichkeit auf sie angewiesen, damit sie sie auf den rechten Pfad zum wissenschaftlichen Essen führten, damit sie ein Beispiel setzten, und, traurig, aber wahr, in ihren Reihen war kein Platz für einen Trunkenbold – Ehrlichkeit war die beste Politik, nicht wahr?)
Dennoch, irgend etwas stimmte nicht. Er spürte es in der Luft, wie er das Fallen des Barometers vor einem Wetterleuchten spürte. Er spürte es, als die massige Frau mit dem aufgemalten Schnurrbart über ihrem Teller zusammenbrach, ruiniert von Austern und Alkohol, spürte es, als das Publikum applaudierte und die Schauspieler sich verbeugten und die Stunde von Mrs. Hookstrattens Mittagessen näherrückte. Die breitschultrige Frau kam von der Bühne herunter, und benommen entbot er ihr seine Glückwünsche, während er die ganze Zeit über seine Wohltäterin nicht aus den Augen ließ und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, ihr Inneres zu erraten, die Sache zu ergründen: Was war hier los?
Nichts, sagte er sich, überhaupt nichts. Er mußte sich zusammenreißen. Er war nur nervös wegen des Schecks, das war alles. Mrs. Hookstratten würde nie etwas tun, was ihn verletzen würde – gleichgültig, was sie wußte oder was er getan hatte. Er war ihr Vorhaben, ihr großes Experiment, mehr Sohn für sie als der, den sie geboren hatte. Wenn sie Verdacht geschöpft hätte, hätte sie ihn nicht eingeladen, sie hätte ihm kein Geld angeboten, wenn sich irgend etwas zwischen ihnen verändert hätte. Oder?
Im Schneckentempo schlenderten sie hinaus in den Korridor, die Männer steif wie Leichen, die Frauen flatternd und gackernd wie die alten Hennen, die sie waren. Wenn Charlie nicht ohnehin schon unbehaglich zumute gewesen wäre, dann hätte allein die Tatsache, daß ausnahmslos alle in der Menge mindestens zwanzig Jahre älter waren als er, dafür gesorgt. Trotzdem sprach er leutselig mit diesem und jener, tat sein möglichstes, um auszusehen, als gehörte er hierher, bearbeitete sie, wie Bender es getan hätte – man wußte ja nie. Das Sanatorium mit seinem ganzen Drum und Dran war ihm scheißegal, aber diese Leute hier waren allesamt Ernährungsfreaks, und wenn sie nicht die potentiellen Käufer von Per-Fo (oder wie immer das Produkt heißen würde) waren, wer dann? Und sie hatten Geld. Geld, das sie investieren konnten.
Er diskutierte über Frühstückskost, während er mit dieser auf einmal so freundlichen Gruppe den Flur entlang in die Halle spazierte, und seine vagen Ängste lösten sich auf
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