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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Mrs. Hookstratten hatte ihn bestimmt ausdrücklich deswegen eingeladen, weil sie beide aus Peterskill stammten. Er würde gute Miene zum bösen Spiel machen müssen.
    Sie waren bereits beim Hauptgericht – der übliche gekochte Pappkarton und die faden Gemüse –, als Charlie eine zweite Überraschung erlebte. Oder vielmehr einen Schock erster Güte. Will Lightbody gegenüber am anderen Ende des Tisches und bislang verdeckt von den kauenden Köpfen und geschäftigen Händen der dazwischensitzenden Gäste, saß aufrecht und unverwechselbar Bartholomew Bookbinder. Bookbinder. Was um Gottes willen tat der hier? Die Antwort, zu entsetzlich, als daß er sie in Worte hätte fassen können, klang wie eine Sturmglocke in seinen Ohren, und verwirrt und ängstlich wandte er sich an Mrs. Hookstratten – »Tantchen«, flehte er, »Tantchen« –, aber sie blickte weg, und er sah, daß ihre Lippen zitterten. Er mußte von hier verschwinden, mußte auf der Stelle verschwinden – Es war zu spät.
    In diesem Augenblick, gerade als die Gäste bedächtig an den letzten Bissen saugten von was immer es war, was man ihnen vorgesetzt hatte, und die Mädchen mit den blauen Kappen begannen die großen Teller gegen Dessertteller auszutauschen, schritt der kleine weiße General höchstpersönlich, der Impresario, der Boss, der Herr des Hauses, durch die Tür, die zur Halle führte, begleitet von sechs seiner weißgekleideten Leutnants und einem frettchenhaften, hängeschultrigen Mann mit einem an das Hemd gesteckten Stern und einem lässig von seiner rechten Hand baumelnden Schlagstock – und es gab keinen Zweifel daran, wer dieser Herr war. Charlie erstarrte. Es gab zwei weitere Ausgänge – eine Tür führte zur Turnhalle der Männer, die andere zu der der Frauen –, und die Pfleger schwärmten rasch aus, um sie zu verstellen. Gelähmt, den Blick angstvoll auf den Teller gerichtet, saß Charlie in sich zusammengesunken da wie ein Mann, der mit einem Stock geschlagen wird. In diesem Augenblick sah er sich aus dem Zug steigen, erfüllt von lächerlichen, naiven Hoffnungen und Träumen, sah sich in Bookbinders Keller, sah sich zwischen zwei Reklametafeln durch die Straßen laufen, sah sich mit Bender in dessen extravaganter Suite im Post Tavern Hotel ein Glas Ortard Dupuy heben. Und darauf läuft es jetzt hinaus, dachte er. Darauf läuft es hinaus.
    »Guten Tag, meine Freunde«, dröhnte der Doktor und rieb sich die Hände wie ein Arbeiter, der sein Werkzeug vor sich ausgebreitet hat, dann schritt er den Tisch entlang bis zum Ende, schwenkte um und blickte in die andere Richtung. »Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Feiertag und lege Ihnen nahe, an den vielen Festlichkeiten teilzunehmen, die wir für den Rest des Tages organisiert haben, unter anderem ein gemeinschaftliches Singen und ein Feuerwerk am Abend, und ich danke Ihnen allen für Ihre Anwesenheit bei diesem kleinen Mittagessen, das ich Mrs. Hookstratten bat zu arrangieren, und ich hoffe, Sie empfinden es als lehrreich sowie erfreulich für den Gaumen. Ach ja, und natürlich möchte ich Mrs. Hookstratten danken für ihren Beistand, den zu gewähren ihr, wie ich weiß, nicht leicht gefallen ist, angesichts dessen, was Sie gleich erfahren werden …«
    Ein kurzer Applaus für Mrs. Hookstratten, die sich jedoch kaum erkenntlich zeigte. Sie biß sich auf die Lippen, faltete die Hände und sah Charlie nicht einen einzigen Augenblick an.
    Charlie seinerseits starrte so konzentriert auf seinen Teller, daß er noch den letzten haarfeinen Sprung aus dem Gedächtnis hätte wiedergeben können. Er bewegte nicht einen Muskel. War unfähig dazu. Der abgestandene, tropische Geruch lähmte ihn, der Geruch nach Verfall, Fäulnis, Verhängnis, nach Verrat und Tod aller Hoffnungen, und er verstopfte seine Nase, bis er nichts anderes mehr roch. Er erstickte einen Schluchzer. Bekam keine Luft mehr.
    Der Doktor wirbelte herum, drehte Pirouetten, tänzelte auf den Zehenspitzen – er genoß die Situation. Gegenüber Charlie blieb er stehen, hinter den breiten Schultern und dem weise nickenden Kopf von Philpott, dem Polizeichef von Baltimore, und legte die Finger zu einem Dreieck aneinander. »Unter uns«, verkündete er, »befindet sich ein Betrüger und Verbrecher der schlimmsten Sorte, ein so verabscheuungswürdiger und gewissenloser Mann, daß ich mir trotz meines gedrängten Programms Zeit genommen habe, um diese Zusammenkunft zu arrangieren, damit ich ihn entlarven und vorführen und

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