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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Menschenfreund«, verkündete der Doktor nach einem Moment des Nachdenkens und tätschelte derweil mit plumper, tröstlicher Hand Mrs. Hookstrattens bebende Schultern, »und ich glaube, daß der Mensch fähig ist, sich zu bessern und zu vervollkommnen, und doch« – eine hochgezogene Braue, ein geräuschvoller Atemzug – »erfüllen mich manche Dinge bis ins Innerste meines Wesens mit Ekel. Dieser Mann – und ich werde Ihre wertvolle Zeit nicht länger an ihn verschwenden, glauben Sie mir –, dieser Mann, Charles P. Ossining, stellt eine solche Bedrohung unserer bedeutenden Arbeit dar, er untergräbt und pervertiert die ernährungswissenschaftlichen Wahrheiten, denen ich mein Leben und meine ganze Kraft geweiht habe, so daß ich in meinem Herzen kein Mitleid mit ihm empfinde – nein, nicht für einen Augenblick.«
    Es herrschte Schweigen – der Doktor war fertig. Mrs. Hookstratten, die Verräterin, schmolz in seiner heilenden Umarmung dahin, und ihre Atemzüge wurden von ungestümen Schluchzern zerrissen. Über ihnen zerschnitten Palmwedel das Licht, und fremdländische Kletterpflanzen ließen ihre Schlingen und Windungen herunterbaumeln. Die Gäste saßen reglos auf ihren Stühlen. Charlie blickte verzweifelt von einem Gesicht zum anderen – Bender war es gewesen, begriffen sie das denn nicht? –, aber ihm schlug nichts als Abscheu und Verachtung entgegen.
    »Bill«, unterbrach der Doktor streng das Schweigen, und der Mann mit dem Stern trat vor, und Charlie merkte, wie er vom Stuhl gezogen wurde, spürte an den Handgelenken die stumpfe, kalte Umarmung von Stahl und hörte das Zuschnappen der Handschellen aus unermeßlicher Entfernung, als würde jemand anders in aller Öffentlichkeit gefesselt, geprügelt, gedemütigt und fertiggemacht. Dr. Kellogg stand in Habachtstellung daneben, die Lippen triumphierend zusammengepreßt. »Kümmern Sie sich um Ihren Gefangenen«, sagte er, »und sorgen Sie dafür, daß ihn die volle Wucht des Gesetzes trifft.«

9.
FEUERWERK
    Will war deprimiert. Ein weiterer Feiertag, und hier war er, noch immer im San, nach wie vor seiner Frau entfremdet, noch immer von Schmerzen geplagt, noch immer war er allein. Eleanor war Vögel beobachten gegangen – das war neu: Vögel beobachten – mit dieser Kuh von einer Frau, und Badger war zweifellos auch mit von der Partie. Die drei waren praktisch unzertrennlich, obwohl er nicht den blassesten Schimmer hatte, was sie aneinander fanden. Badger war wie ein Splitter unterm Fingernagel, und Virginia Cranehill war einfach nur gewöhnlich und sonst nichts. Vögel beobachten. Er hätte sich nicht gewundert, wenn sie auch noch den Doktor mitgenommen hätten, den Unterleibsmanipulator. Der Mann brauchte schließlich einen freien Tag wie jeder andere Mensch auch – die Finger mußten ihm weh tun, mußten bis auf die Knochen durchgescheuert sein. Ja, ha ha. Witze, erbärmliche Witze. Mehr fiel ihm mittlerweile nicht ein.
    Er lag auf seinem physiologischen Bett in seinem physiologischen Zimmer im fünften Stock des Sanatoriums und starrte an die physiologische Decke. Irgendwo jenseits des Fensters spielten Kapellen, jubelten Kinder, packten Frauen Sandwiches aus und versammelten sich Männer, um zu plaudern, Hufeisen zu werfen, zum Andenken an die Toten des Bürgerkriegs und die Opfer des Spanisch-amerikanischen Kriegs ein Bier zu trinken. Es gab Blumen, Schmetterlinge, herumtollende Hunde, den Duft von Würstchen und Hähnchen und Venusmuscheln, die über dem offenen Feuer brieten, Vogelgezwitscher, Grillengezirpe, sonnenwarmes Gras und das kalte, gekrümmte Hufeisen in der Hand. Und hier gab es Klistiere und Wasserkressesandwiches.
    Himmel, war er deprimiert. Schwester Graves – er nannte sie nicht mehr Irene, wozu auch? – war nicht da, war mit ihrem tölpelhaften Verlobten Boot oder Fahrrad fahren oder picknicken gegangen oder lag mit ihm auf einer Decke in der Wiese. Es war eine Tortur, daran zu denken, aber er konnte nicht anders. Er stellte sie sich vor, wie sie einander im gesprenkelten Schatten umarmten und sich Namen für ihre Kinder ausdachten, Hühner, Kühe, gepflügte Ackerfurchen und gesäte Ackerfurchen zählten, sich küßten, berührten, geheime Wünsche zuflüsterten, während die Insekten leise und fiebrig summten. All das. All das hatte auch er getan, mehr oder weniger, als er und Eleanor verliebt gewesen waren, in einer Zeit vor Kaulektionen, Grahambrötchen und verlorenen Töchtern. Schwester Graves lebte jetzt in dieser

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