Willkommen in Wellville
Zeit, kostete das Leben aus, die Liebkosungen der Sonne und das langsame, süße Sich-Entfalten des Tages, während er sich dieses tödliche Drama allein hatte ansehen müssen, mit den ständigen Auftritten des rückfälligen Ehemanns, den er nur allzuleicht wiedererkannte, und dann gezwungen gewesen war, an dem entsetzlichen Mittagessen teilzunehmen.
Und auch das war ein Teil des Gewichts, das auf ihm lastete – das Mittagessen war ihm auf den Magen geschlagen, so heftig und nachhaltig, wie es das abgeschmackte Stück nie vermocht hätte. Er wollte keinen Mann so gedemütigt sehen, gleichgültig, wie sehr er es verdiente. Kellogg hatte dafür gesorgt, daß sich der arme Charlie wand und drehte, es schien ihm ein wahres Vergnügen bereitet zu haben, das scheinheilige Donnergetöse vom Stapel zu lassen, während der Polizeichef mit dem Schlagstock und den Handschellen im Hintergrund wartete. Und auch das deprimierte ihn. Charlie war ein Dieb, ein Gauner, ein Hochstapler, und Will war um tausend Dollar ärmer. Aber es war nicht so sehr der Verlust des Geldes, der ihn schmerzte – es war der Gedanke, daß Charlie ihn die ganze Zeit als leichte Beute betrachtet hatte, von Anfang an, von dem Augenblick an, als er und Eleanor im Zug sich ihm gegenüber an den Tisch gesetzt hatten. Das tat weh. Tat wirklich weh. Er hatte Charlie gemocht, sein sorgloses Lachen und die Zuversicht, mit der er alles anging, er hatte ihn gemocht, weil er ein normales, durchschnittliches, regelmäßig Fleisch essendes, Bier trinkendes, Zigaretten rauchendes menschliches Wesen war und nicht irgendein Sanatoriumsmönch. Abgesehen von Homer Praetz und Miss Muntz, die er um ihren derzeitigen Zustand nahezu beneidete, war Charlie sein einziger Freund gewesen. Das hatte er zumindest geglaubt.
Er käute diese bitteren Gedanken wieder, als Schwester Bloethal in der Tür erschien, erbarmungslos effizient, das Zubehör für das Klistier in Händen. »Wie ich sehe, ruhen Sie sich aus für die abendlichen Festlichkeiten«, meinte sie. Sie zog wie eine dunkle Wolke am Bett vorbei, groß und forsch auf ihren dicken Korksohlen, war schon im Badezimmer und drehte den Wasserhahn auf. »Die Hälfte der Leute ist draußen auf der Wiese, sieht den Tozer Twins zu und wartet, bis die Kapelle zu spielen anfängt, aber Sie sind schlauer – es hat keinen Sinn, alles wegen ein paar Minuten Vergnügen aufs Spiel zu setzen, was?«
Er hörte nicht zu. Er dachte nach über die Kette von Ereignissen, die zu diesem Augenblick geführt hatten, dazu, daß er sich mit dieser Frau in diesem Raum befand, daß er zu einem Überläufer geworden war, daß er seinen Willen, sein Rückgrat, sein grundlegendes Menschenrecht verloren hatte, über seinen Körper und seine Funktionen selbst zu verfügen. Er kam sich vor wie eine Hure, eine Konkubine des Sanatoriums, wie Dr. Kelloggs Spielzeug. Die Schwester – man brauchte sie sich nur anzusehen –, sie war ein meckernder Dummkopf, blödsinnig, grob und ungeschlacht und ihm in jeder Beziehung unterlegen, und er haßte sie und alles, wofür sie stand, und hier war er und drehte sich zum tausendstenmal gefügig um, damit sie eine widerliche und degradierende Handlung an einer seiner intimsten Stellen vornehmen konnte. Wer war er? Was war aus ihm geworden?
Ah, aber er hatte eine Waffe, und damit konnte er sie alle besiegen – die Bloethals, Fletchers, Linnimans und Kelloggs, alle. Eine Bahnfahrkarte. Sein Ausweg und Fluchtmittel, sein Schwert, mit dem er zum Befreiungsschlag ausholen würde. Und er würde sie benutzen, heute noch, wenn da nicht eine Sache wäre, und diese eine Sache lag ihm auf der Brust wie das große steinerne Rad, mit dem sie im Mittelalter Sünder zermalmt hatten, peine forte et dure: Die Fahrkarte nützte ihm überhaupt nichts. Nicht jetzt. Nicht mehr. Nicht seitdem er auf dem Goguac Lake Boot gefahren war. Er würde nirgendwo hinfahren, wenn Eleanor nicht mitkäme. Und wie wahrscheinlich war das?
»In Ordnung, Mr. Lightbody, seien Sie brav und kommen Sie für einen Augenblick zu mir«, sagte Schwester Bloethal. Sie stand auf der Schwelle zum Badezimmer wie ein wildes, einem tiefen Morast entstiegenes Tier, das Klistier in einer fleischigen Hand, während die andere müßig an einem unaussprechlichen Teil ihrer Anatomie kratzte. So war die Lage – Schwester Bloethal winkte Will zu sich, und Will lag da, hingestreckt vom Gewicht seiner Depression –, als das Telephon klingelte. Das schrille, kategorische
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