Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
der Droschke zu steigen, als der kleine Mann ausführte: »Um diese Jahreszeit ist dort keine Menschenseele. Alles zugefroren. Oder fast alles, glaub’ ich. War selbst nicht mehr dort draußen seit, äh, September, glaub’ ich.«
    »Aber der Bootsclub – dort wird heute ein Essen veranstaltet.«
    »Ein Essen? Wer’s glaubt, wird selig. Dort draußen gibt’s nur ein Bootshaus – und das wird den Winter über dichtgemacht. Wer will bei diesem Wetter schon mit dem Ruderboot fahren? Seit vielleicht zwanzig Jahren war’s nicht mehr so kalt um diese Jahreszeit.« Der Kutscher setzte für einen Augenblick den Hut ab, um Schal und Kragen zurechtzurücken, und dabei enthüllte er ein Stück nackter rosa Kopfhaut. »Außer vielleicht Stellrecht.«
    »Ja, Stellrecht«, rief Charlie. »Stellrecht, das ist er. Ich soll ihn dort treffen, im Bootsclub, ihn und meinen … meinen« – was war Bender? –, »meinen Geschäftspartner.« Und bevor er wußte, was er sagte, war es ihm entschlüpft: »Wir brauchen Pappe.«
    Jetzt drehte sich der Kutscher ganz um und musterte ihn genau. Er hob einen schmutzigen Finger an ein Auge und schloß es blinzelnd, dabei bearbeitete er den Schleim in seinem Hals mit einem leise reibenden Geräusch, fast als würde er schnurren. »Sie und all die anderen«, sagte er. »Lassen Sie mich raten – Sie wollen ins Frühstückskostgeschäft einsteigen, hab’ ich recht?«
    Es war eine flotte zwanzigminütige Fahrt bis zum Goguac Lake, eine Fahrt, die mitten zwischen den wohlhabenden städtischen Schluchten von Battle Creek begann, auf Kopfsteinpflasterstraßen, die von Telephonleitungen und Straßenbahnkabeln gekreuzt und von drei- oder vierstöckigen Backsteinbauten gesäumt wurden, und auf einer tristen Landstraße endete. Sie führte bis zu einer bedrohlichen schwarzen Wasserfläche, die angesichts dessen, was sich an ihren Ufern an Leben regte, genausogut ein namenloser See im Yukon-Territorium hätte sein können. Der See war noch nicht ganz zugefroren, und an den offenen Stellen schwappte das Wasser mit einem häßlichen, abgehackten Klang, der von bevorstehendem Verhängnis sprach und vom Enterhaken, gegen das Ufer. Das war nicht Westchester mit den lieblichen Teichen und den wiederkäuenden Kühen; das war der Westen, und der Anblick des Goguac Lake in all seiner urzeitlichen Gleichgültigkeit machte Charlie das klar auf eine Weise, wie es noch soviel Landschaft, aus den Zugfenstern der Twentieth Century Limited gesehen, nicht gekonnt hätte. Es war ein düsterer Ort, daran gab es keinen Zweifel. Sobald er ihn erblickt hatte, wußte er, daß er einen Fehler begangen hatte, aber er war zu stur, um die Niederlage einzugestehen – außerdem würde es ihn so oder so mindestens fünfzig Cent kosten, und er gedachte, sich das wenigstens anzusehen, wofür er bezahlt hatte. Als der Kutscher also die Zügel anzog und sich umdrehte, als ob er bemerken wollte: Ich hab’s Ihnen ja gleich gesagt, befahl Charlie lediglich: » Zum Bootsclub .«
    Es gab keine Hütte. Es gab keine Kellner, keine Gäste; es gab kein Feuer, kein Essen, keine Wärme. Der Goguac-Bootsclub war ein langes weißes Schindelgebäude, das ebensogut eine Lagerhalle oder eine Scheune hätte sein können, wenn es nicht auf das Wasser hinausgebaut gewesen wäre. Charlie ließ es sich nicht nehmen, aus der Droschke zu klettern und sich an der Tür zu versuchen. (Herr im Himmel, es war kalt. Unter dem Stoffdach der Droschke war es kalt genug gewesen, aber hier draußen war es mörderisch.) Das Gebäude hatte keine Fenster, und an der Tür hing ein Vorhängeschloß. Charlie klopfte kurz an die Tür, ohne mit irgendeiner Reaktion zu rechnen, wobei ihm der Kutscher verächtlich zusah und einen Schleimpfropfen nach dem anderen produzierte, als versuchte er seine Lunge von innen nach außen zu kehren. Er spuckte drei-, viermal kurz hintereinander, blickte dann auf und sagte: »Wohin jetzt, Freund?«
    Gute Frage. Wenn Bender nicht hier war – und selbstverständlich würde niemand, der noch ganz richtig im Kopf war, hierherkommen außer Wolfsjägern oder Holzfällern –, wo war er dann? Und wozu diese Irreführung? In die Droschke gekauert, zog Charlie Benders Nachricht aus der Manteltasche und las sie noch einmal: Bin im Goguac-Btsclb. Mittagessen m. Stellrecht. Und dann kam ihm eine Idee – vielleicht hielt der Goguac-Bootsclub ja sein Mittagessen woanders ab und nicht an den gefrorenen, unwirtlichen, Leib und Seele betäubenden Gestaden

Weitere Kostenlose Bücher