Willkür
Lygon Street, verlangsamte er sein Tempo und ging inmitten der anderen Passanten in südliche Richtung. Die eine Hälfte sah aus, als käme sie direkt vom Laufsteg, die andere bevorzugte Reeboks und farbenfrohe Sportklamotten. Einst hatte Wyatt nur Verachtung für sie übrig, doch dafür fehlte ihm jetzt die Kraft. Die Mehrzahl der Bevölkerung war gewöhnlich und angepasst und einige hatten Geld. So viel dazu.
Er schob sich durch den Pulk von Studenten, die die Wohnungsanzeigen in Readings Schaufenster überflogen. Es gibt Wege, jemanden zu verfolgen, ohne entdeckt zu werden, und es gibt Wege, Verfolger zu entdecken. Um seine Beschatter zu beschatten, nutzte Wyatt reflektierende Oberflächen — Chromteile an Fahrzeugen oder die Lackierung der Karosserien, Schaufensterscheiben, Sonnenbrillen anderer Leute. Zweimal lief er hin und her, betrachtete ab und zu die Auslagen eines Geschäfts und blickte dabei wie zufällig in die Richtung, aus der er gerade gekommen war. Unbedarfte Verfolger flogen immer auf, sei es, dass sie nicht im Takt der Menge blieben, sei es, dass sie wahllos Interesse für jede Art von Schaufenster heuchelten oder sich völlig unvermittelt in eine Telefonzelle verzogen. Wyatt bemerkte nichts dergleichen. Er betrat eine große, laute Pizzeria, vertiefte sich in das Tagesangebot auf der Schiefertafel und verließ das Restaurant durch eine Nebentür. Ecke Graten Street wurde gerade ein Taxi frei, er stieg ein, bat den Fahrer zu wenden und wartete ab, was geschah. Nichts geschah. Absolut nichts. Sie waren routiniert.
An ›Jimmy Watson’s wine bar‹ ließ er sich absetzen, gab dem maulenden Fahrer zwanzig Dollar und ging zurück zur Lygon Street. Wyatt hatte keine Probleme, das stundenlang so durchzuziehen, wenn nötig. Er nahm an, dass sie mehr als einen auf ihn angesetzt hatten. Selbst der Passant vor ihm konnte ein Verfolger sein. Und wenn schon, ihm war nur darum zu tun, einen von denen zu erwischen, ihn außer Gefecht zu setzen und dann durch die Mangel zu drehen.
Aber sie waren gut. Ein weiteres Mal ließ sich Wyatt auf der Einkaufsmeile blicken. Er überquerte die Graten Street und befand sich vis-à-vis vom Park am Argyle Square, als ein Verfolger Gestalt annahm. Dieses Gesicht hatte sich in einem der Schaufenster gespiegelt, Wyatt erinnerte sich, jetzt, da die Menge um ihn herum lichter geworden war. Unwillkürlich ging ein Ruck durch seinen Körper; scheinbar in Gedanken, kratzte er sich sogleich am Rücken, damit sein Verfolger die Anspannung nicht bemerkte, und ging weiter. Diese breite, belebte Straße — Wyatt sah keine Möglichkeit, den Jäger hinter ihm zu stellen.
Schlagartig setzte ihn etwas in höchste Alarmbereitschaft. Auf der anderen Straßenseite hielt jemand mit ihm Schritt, der Typ, den er vorhin in der Nähe von Rossiters Haus entwaffnet hatte. Nun gab ihr Plan Wyatt keine Rätsel mehr auf. Weder der eine noch der andere bemühte sich um Diskretion, also lauerte irgendwo Verstärkung. Sie agierten im Doppelpack, flexibel genug, ihn so lange zu verfolgen, bis er in der Falle saß.
Wyatt griff mit der rechten Hand in seine Jackentasche und umschloss sein Schlüsselbund. Wie Stacheln ragten die Schlüssel jetzt zwischen seinen Fingern hervor. Die .38er steckte in der Innentasche, doch nur ein Amateur würde versuchen, die Situation mit Hilfe einer Schießerei auf der Lygon Street zu bereinigen. Keine Frage, seine Gegner sahen das genauso. Er ging weiter.
Standardsituation, dachte er. Gegenüber, auf der Parkseite, blieb der Zweite auf gleicher Höhe mit ihm. Wyatt konzentrierte sich auf dessen Arme. Er hielt sie seltsam steif vom Körper ab; ein Indiz, dass er wieder eine Waffe trug. Ein flüchtiger Blick über die Schulter und Wyatt wusste, der Erste war ungefähr zwanzig Meter hinter ihm. Sie trieben ihn vor sich her, irgendwohin, wo der Rest der Truppe aus dem Hinterhalt zuschlagen konnte. Wahrscheinlich ein paar Ecken weiter.
Am liebsten wäre er losgerannt, doch er unterdrückte den Impuls. Pkws, Taxis, ein Bus, ein Motorrad-Kurier, Leute beim Einkaufsbummel, ein Junge auf einem Skateboard — alles in allem das normale Klima in einer normalen, belebten Straße, das jedoch kurz davor war, umzuschlagen. Er fühlte Hoffnungslosigkeit in sich aufkeimen. Kein Ende in Sicht. Nirgends je ein Ende.
Einen Block weiter in Richtung Innenstadt standen zwei Reihen heruntergekommener Gebäude mit Läden, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatten und im Schutze ihrer
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