Willkür
Es hatte einfach an Konzentration und Intensität gemangelt. Was für eine Erleichterung würde es sein, endlich das Grundstück der Mesics betreten zu können. Es wäre zugleich das letzte Manöver in dieser Angelegenheit, das Ende vor Augen, würde er sich wieder sammeln, sich als Ganzes fühlen, denn er würde das machen, was er am besten beherrschte.
Das Gebäude der Stadtverwaltung war noch zwei Blocks entfernt. Er ertappte sich dabei, wie er über die Zeit im Anschluss an den Handstreich nachdachte. Er hätte endlich wieder Mittel zur Verfügung, könnte sich irgendwo niederlassen, Geld investieren und ein angenehmes Leben führen.
Natürlich war das nicht alles. Das war es nie. Rose kam ihm in den Sinn, der weibliche Assassine des Syndikats. Selbst hier konnte er sie buchstäblich spüren. Frauen wie sie waren ihm nicht neu. Obwohl sie kein Thema für Schlagzeilen waren, gab es sie dennoch. Allein erziehende Mütter, die sich Sozialleistungen erschlichen, Giftmörderinnen oder Nachtclubsängerinnen, die ihr Verschwinden vortäuschten, nur um ihren Namen einmal gedruckt zu sehen, das waren Frauen, auf die sich die Boulevardpresse stürzte. Mit einer Frau wie Rose, einer Auftragsmörderin, die diskret und knallhart agierte, wüssten die Schreiberlinge nichts anzufangen. Mit den üblichen abgedroschenen Sätzen würden sie ihre Figur beschreiben, ihr Haar, ihre Art sich zu kleiden und damit stießen sie auch schon an ihre Grenzen, unfähig, nachzuvollziehen, was die Beweggründe dieser Frau sein könnten. Wyatts Gedanken wanderten zu den Mesics. Vorhin war er mit dem Taxi am Grundstück vorbeigefahren; wie eh und je hatte es sich selbstgefällig präsentiert, eine einzige Herausforderung. Die Erfolgschancen waren also eher noch gestiegen. Irgendwo da draußen war Jardine auf seinem Beobachtungsposten, machte sich Notizen über zeitliche Abläufe, Bewegungen, fremde Personen.
***
Das Domizil der Stadtverwaltung befand sich in einem Gebäude aus Glas und Beton, in dem es nach abgestandenem Rauch und Deodorant vom Vortag roch. Wyatt fragte nach dem Bau- und Planungsamt und wurde zu einem quadratischen Glas-Pavillon an der Rückseite des Gebäudes geschickt. Der verantwortliche Dezernent trug dunkelblaue Anzughosen, ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. In seiner Brusttasche steckten mehrere Filzstifte. Seinen Zügen fehlten die Charakteristika, die das Auge benötigte, um ein Gesicht dauerhaft zu erfassen — sein Blick war von einem wässrigen Blau, der Teint rosafarben und das Haar schütter.
»Man hat meine bürgerlichen Rechte verletzt«, fiel Wyatt mit der Tür ins Haus.
Der Dezernent blickte ihn besorgt an. »Wie bitte?«
Wyatt stützte beide Hände auf den Schreibtisch und fuhr fort: »Der Nachbar von gegenüber hat einen scheußlichen Zaun hochgezogen. Dieser Zaun versperrt mir nicht nur die Sicht, er ist auch eine Beleidigung fürs Auge. Es muss doch ein Gesetz geben, das besagt, dass Bauvorhaben im öffentlichen Raum ästhetischen Bedürfnissen Rechnung tragen sollten.«
Der Dezernent wich zurück. Sein Mitarbeiterausweis am Gürtel führte ihn als Colin Thomas. »Tut mir Leid, doch die Richtlinien sehen vor, dass Einsprüche nur in der Planungsphase möglich sind.«
»Leider war ich längere Zeit abwesend, Mr. Thomas.«
Thomas’ Züge entspannten sich ein wenig, als er seinen Namen hörte. »Ich bedauere, aber Sie kommen zu spät.«
Wyatt beugte sich weiter nach vorn. »Das stimmt nicht. Ich habe mich erkundigt. Sie können immer noch etwas dagegen unternehmen.«
»Es handelt sich um einen Zaun, sagen Sie?«
Wyatt nickte und gab ihm die Adresse. »Ein riesiges Grundstück an der Telegraph Road. Die Besitzer heißen Mesic.«
Thomas’ Gesicht spiegelte innerhalb kürzester Zeit die unterschiedlichsten Gemütszustände wider — schlechtes Gewissen, Besorgnis, Resignation. Der wurde geschmiert, dachte Wyatt. Mit Sicherheit hatten die Mesics das Absegnen ihres Bauvorhabens mit einigen hundert Dollar beschleunigt. »Wissen Sie denn, welches Grundstück ich meine?«
»Ich glaube, ja. Aber was den Antrag betrifft ... es entsprach alles den Vorgaben.«
»Oh, das bezweifle ich nicht. Der Fehler liegt im System, nicht wahr?«, erwiderte Wyatt.
Thomas nickte, unfähig, seine Erleichterung zu verbergen.
»Trotzdem«, fuhr Wyatt fort, »ich bestehe auf mein Recht. Ich möchte, dass man dagegen vorgeht.«
»Das wird ein wahrer Papierkrieg. Jede Einzelheit muss geprüft und belegt werden. Ich
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