Willküra (German Edition)
und meine Thesenschlägerinnen sind auch nur so mäßig. Also werden wir unseren Nachwuchs aus dem Volk rekrutieren müssen. Unten aus der Stadt. Aber natürlich nehmen wir nicht einfach irgendwelche Leute von der Straße, sondern nur die Elite. Und die müssen wir gezielt fördern. Mir schwebt dafür ein vollkommener Umbau des Schulsystems vor. Nichts mehr mit Klassen und Schuljahren und Lehrplänen und von allem ein bisschen können, und dieses bisschen dann aber eigentlich auch nicht so richtig. Sondern jeder wird individuell gefördert und bekommt seinen Fähigkeiten und Talenten entsprechend von uns den Weg vereinfacht. Also, wenn jemand mit drei Jahren schon perfekt mathematische Formeln beherrscht, dann fördern wir ihn darin und dann ist das sein Weg. So weit so verständlich, oder?«
»Ja, Willküra!«, stimmte Fürchtedich IX. zu, dem es davor graute, was Willküra nun alles im Staat verändern würde. Generationen von Willkürherrschern hatten darauf geachtet, nicht zu viel auf einmal zu verändern, damit man sich langsam gewöhnen könnte. Und aus Angst, dass sich eine kleine Veränderung in einem Bereich immens auf andere Bereiche auswirken könnte, die man gar nicht bedacht hatte, hatten sich alle Herrscher mit Veränderungen lieber im überschaubaren Rahmen aufgehalten.
Gut, vielleicht hatten Generationen von Willkürherrschern zusammen genommen auch einfach nicht so viele Ideen gehabt, wie Willküra an einem Tag, und auch nicht so viel Mut, hinter den eigenen Ideen zu stehen und sie umzusetzen, aber immerhin war es doch bisher ganz gut gelaufen im Willkürherrschaftlichen Staat.
»Das Problem ist aber die Zeit«, fuhr Willküra fort. »Vom Moment der Geburt bis zum Moment, wenn wir ihre Talente bei uns sinnvoll einsetzen können, vergeht ja so viel Zeit, dass ich von meiner Idee vielleicht gar nicht mehr vernünftig profitieren werde.«
Willküra lächelte verzückt bei dem Gedanken daran, dass sie Fürchtedich IX. jetzt ihre wunderbare Lösung für das Problem verraten würde. »Und deshalb werde ich veranlassen, die Zeit in der Stadt zu verschnellern.«
»Zu verschnellern, Willküra?« fragte Fürchtedich IX., der sich fragte, ob es nicht vielleicht am einfachsten wäre, Willküra jetzt sofort umzubringen.
Aber einen Menschen umbringen, das war einfach nicht seine Art.
»Ja. Ich meine natürlich nicht, dass sich die Zeiger auf deren Uhren schneller drehen, das brächte ja nichts, dann würden sie halt nur auf dem Papier älter werden, aber das hätte ja mit ihrer Entwicklung nichts zu tun. Um ihre Entwicklung zu beschleunigen, müssen wir schneller aufeinander folgende Generationen haben. Sie müssen sich also schnell, früh vermehren, und …«,
Willküra machte eine kunstvolle Spannungspause, »sie müssen schneller altern.«
Sie guckte Fürchtedich IX. an, aber der reagierte nicht.
»Wie wir das mit der Vermehrung hinkriegen, weiß ich noch nicht. Aber über das schnelle Altern weiß ich schon bestens Bescheid. Zeit ist ja nicht wirklich Zeit, so wie wir das immer denken, also fünf Stunden sind fünf Stunden, nein, Zeit ist ja eigentlich nur Verfall. Wenn jemand länger lebt, dann verfällt er einfach nur langsamer an einem bestimmten Ort in seinen natürlichen Rahmenbedingungen. Ein und dieselbe Person würde in zwei unterschiedlichen Umgebungen unterschiedlich schnell verfallen, und nicht, wie wir es immer nennen, unterschiedlich lange leben. Ort und Zeit beziehungsweise Verfall, das kann man gar nicht voneinander trennen. Kannst du mir folgen?«
»Weiß ich noch nicht, Willküra«, sagte Fürchtedich IX. gespannt darauf, was sie jetzt gleich für einen Schluss daraus ziehen würde.
»Ich muss also nur das Milieu in der Stadt entsprechend verändern lassen, so dass ein Mensch dort seine komplette Entwicklung in maximal fünf Jahren durchläuft. Oder vielleicht auch nur drei. Also: Verfallsdatum nach der Geburt, drei Jahre bis fünf Jahre, dazwischen unsere gezielte Förderung. Sie werden uns vorkommen wie Ameisen, oder Fruchtfliegen, so schnell werden sie alles machen, aber es sind normale Menschen. Und die Elite hole ich hier hoch zu uns ins Schloss. Und hier ist das Milieu plötzlich so wunderbar für sie, dass der Verfall deutlich verlangsamt wird und sie leben genauso wie wir. Ist das nicht wunderbar?«
Fürchtedich IX. sah nur starr nach vorn. Was hatte Willküra da vor? Das klang nach einer schrecklichen Versuchsanordnung, die sie mit den Menschen der Stadt durchführen
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