Wimsey 04 - Der Mann mit dem Kuperfingern
Länder gar nicht mitgerechnet. Außer daß er einem der ältesten Herzogshäuser Englands entstammte, hatte Lord Peter sich auch noch einen Namen als Detektiv gemacht. Ein Gepäckschildchen wie dieses war kostenlose Reklame.
Aber das Erstaunliche war, daß die Verfolger sich nicht einmal die Mühe machten, sich vor dem Verfolgten zu verbergen. Das sprach dafür, daß sie sich ihrer Sache sehr sicher waren. Daß es ihm noch gelungen war, aufs Bremserhäuschen aufzuspringen, war natürlich purer Zufall, aber andernfalls hätte er den Koffer auch auf dem Bahnsteig oder sonst irgendwo sehen können.
Zufall? Es wollte ihm so vorkommen – nicht zum erstenmal, aber jetzt mit aller Deutlichkeit und über jeden Zweifel erhaben –, als ob sein Hiersein für die andern nicht nur Zufall, sondern geradezu ein Unfall wäre. Diese Serie unglaublicher Behinderungen, die ihn zwischen London und der Gare des Invalides aufgehalten hatten, präsentierte sich ihm jetzt wie arrangiert. Zum Beispiel die lächerliche Anschuldigung, mit der diese Frau ihn am Piccadilly überfallen hatte, und daraufhin die langwierige Vernehmung bei der Polizei in der Marlborough Street, bis man ihn endlich wieder auf freien Fuß gesetzt hatte. Es war ja so leicht, einen Mann mit Hilfe fingierter Vorwürfe so lange festhalten zu lassen, bis ein wichtiger Plan gereift war. Dann die Toilettentür am Waterloo-Bahnhof, deren Schloß so albern hinter ihm zugeschnappt war. Als sportlicher Mensch war er über die Trennwand gestiegen, nur um festzustellen, daß der Toilettenwärter ebenfalls auf wundersame Weise verschwunden war. Und war es dann in Paris etwa Zufall gewesen, daß er ausgerechnet einen schwerhörigen Taxifahrer erwischte, der die Zielangabe «Quai d’Orleans» als «Gare de Lyon» mißverstand und erst einmal drei Kilometer weit in die falsche Richtung fuhr, bis die Proteste seines Fahrgastes endlich zu ihm durchdrangen? Sie waren schon schlau, seine Verfolger, und sehr umsichtig. Sie besaßen genaueste Informationen. Sie konnten ihn nach Belieben aufhalten, ohne dabei offen in Erscheinung zu treten. Sie wußten, daß sie nur die Zeit für sich arbeiten zu lassen brauchten, dann benötigten sie keinen weiteren Verbündeten mehr.
Wußten sie vielleicht auch jetzt, daß er im Zug war? Wenn nicht, hatte er noch immer einen Vorteil in der Hand, denn dann reisten sie in falscher Sicherheit, weil sie ihn tobend vor hilfloser Wut in der Gare des Invalides wähnten. Er beschloß, vorsichtig auf Kundschaft zu gehen.
Dazu gehörte, daß er als erstes seinen grauen Anzug gegen einen anderen in unauffälligem Marineblau vertauschte, den er in seiner kleinen schwarzen Tasche bei sich hatte. Das besorgte er in aller Stille auf der Toilette, dann setzte er noch statt des grauen Filzhuts eine große Reisemütze auf, die er schön tief ins Gesicht ziehen konnte. Es bereitete so gut wie keine Schwierigkeiten, den Mann zu finden, den er suchte. Er entdeckte ihn auf einem Eckplatz in einem Abteil der ersten Klasse, in Fahrtrichtung sitzend, so daß er selbst sich ungesehen von hinten nähern konnte. Im Gepäcknetz lag ein schönes Reisenecessaire mit den Initialen P.D.B.W. Wimseys schmales, spitzes Gesicht, die glatten gelben Haare und die anmaßend gesenkten Augenlider waren dem jungen Mann bestens vertraut. Er lächelte ein wenig grimmig.
«Er fühlt sich sicher», dachte er, «und hat bedauerlicherweise den Fehler gemacht, den Feind zu unterschätzen. Gut! Somit werde ich mich in eine seconde zurückziehen und die Augen offenhalten. Der nächste Akt dieser Komödie wird sich schätzungsweise in Dreux abspielen.»
Beim Chemin de Fer de l’Ouest gilt es als die Regel, daß alle Züge von Paris nach Evreux, ob mit der Bezeichnung «Grande Vitesse» oder (wie Lord Peter es nannte) «Grande Paresse», einen endlos langen Aufenthalt in Dreux haben. Der junge Mann (jetzt in Marineblau) wartete ab, bis er sein Opfer in den Erfrischungsraum verschwinden sah, dann verließ er unauffällig den Bahnhof. Eine Viertelstunde später war er wieder da – diesmal in einem schweren Chauffeurmantel mit Helm und Brille und am Steuer eines schnellen gemieteten Peugeot. Unbemerkt betrat er den Bahnsteig und bezog Posten hinter der Wand der lampisterie, von wo er den Zug und den Eingang zum Erfrischungsraum im Auge behalten konnte. Nach fünfzehn Minuten wurde seine Geduld durch den Anblick seines Opfers belohnt, das mit dem Reisenecessaire in der Hand wieder den Zug bestieg. Die
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