Wimsey 04 - Der Mann mit dem Kuperfingern
Dienstmänner schlugen die Türen zu und schrien:
«Nächste Station Verneuil!» Die Lokomotive ächzte und stöhnte; die lange Reihe graugrüner Wagen ruckte langsam an. Der Autofahrer seufzte zufrieden, eilte durch die Sperre hinaus und ließ den Motor seines Wagens anspringen. Er wußte, daß er gute hundertdreißig Stundenkilometer unter der Haube hatte, und in Frankreich gab es keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Mon Souci, der Sitz des Comte de Rueil, jenes exzentrischen, einsiedlerischen Genies, liegt drei Kilometer außerhalb von Verneuil. Es ist ein tristes, halbverfallenes Schloß, das einsam und verlassen am Ende einer verwahrlosten Kiefernallee sein Dasein fristet, umgeben von der jammervollen Atmosphäre einer Aristokratie ohne Gefolgschaft. Die steinernen Nymphen stehen gebeugt und grün über ihren ausgetrockneten, verwitterten Bassins. Hin und wieder zieht ein Bauer mit einer knarrenden Holzfuhre über schlecht gepflegte Waldschneisen. Den ganzen Tag herrscht Sonnenuntergangsstimmung. Das Balkenwerk ist trocken und rissig, weil ihm der Anstrich fehlt. Durch die Jalousien sieht man in den steifen Salon mit seinen schönen, ausgebleichten Möbeln. Selbst die letzte der einstmals hier wohnenden uneleganten, unansehnlichen Frauen mit ihren übermäßig ausgeprägten Familienzügen und ihren langen weißen Handschuhen hat Mon Souci inzwischen verlassen. Aber im hinteren Teil des Schlosses raucht unablässig ein Schornstein. Es ist die Heizung des Laboratoriums, des einzig Lebendigen und Modernen hier inmitten des Alten und Sterbenden; es ist der einzige Ort, der geliebt und gehegt, verhätschelt und verwöhnt und dem alle Sorgfalt zuteil wird, mit der die Grafen einer leichtlebigeren Zeit ihre Ställe und Zwinger, Gemäldegalerie und Ballsaal bedachten. Und im kühlen Keller darunter liegen Reihen über Reihen staubiger Flaschen, eine wie die andere ein gläserner Zaubersarg, in dem das Dornröschen der Weinberge im Schlaf zu immer betörenderer Schönheit heranreift.
Als der Peugeot auf dem Hof ausrollte, stellte sein Fahrer mit einiger Überraschung fest, daß er nicht der einzige Besucher des Grafen war. Ein riesenhafter Super-Renault, viel Haube und kaum Rumpf, wie eine Merveilleuse des Directoire, war so großspurig vor den Eingang gesetzt worden, als sollte er jeglichen Neuankömmling erst einmal in Verlegenheit bringen. Seine glitzernden Türbleche zierte ein Wappen, und im Augenblick schleppte der ältliche Diener des Comte sich mit dem Gewicht zweier prächtiger Koffer ab, die in meilenweit sichtbaren silbernen Lettern die Aufschrift LORD PETER WIMSEY trugen.
Der Peugeotfahrer betrachtete das Schauspiel mit Erstaunen und grinste hämisch. «Lord Peter scheint ja in diesem Land ziemlich allgegenwärtig zu sein», bemerkte er bei sich. Dann nahm er Füller und Papier aus seiner Tasche und schrieb ein Briefchen. Bis die Koffer ins Haus getragen waren und der Renault sich schnurrend in Richtung Nebengebäude entfernt hatte, war auch der Brief fertig und in einen an den Comte de Rueil adressierten Umschlag gesteckt. «Wer andern eine Grube gräbt», sagte der junge Mann, und damit ging er die Treppe hinauf und übergab dem Diener an der Tür den Umschlag.
«Ich habe hier ein Empfehlungsschreiben an den Comte de Rueil», sagte er. «Hätten Sie vielleicht die Güte, es zu ihm zu bringen? Mein Name ist Bredon – Death Bredon.»
Der Diener verneigte sich und bat ihn herein.
«Wenn Monsieur die Freundlichkeit besäßen, einen Augenblick in der Halle Platz zu nehmen. Monsieur le Comte ist noch mit einem andern Herrn beschäftigt, aber ich werde ihn unverzüglich von Monsieurs Ankunft in Kenntnis setzen.»
Der junge Mann nahm Platz und wartete. Durch die Fenster der Halle blickte man auf die Zufahrt hinaus, und es dauerte nicht lange, bis der Schlaf des Schlosses vom Hupen eines dritten Autos gestört wurde. Ein Bahnhofstaxi kam lärmend die Allee herauf. Der Mann aus dem Erste-Klasse-Abteil und das Gepäck mit den Initialen P.D.B.W. wurden vor der Tür abgesetzt. Lord Peter Wimsey entließ den Chauffeur und läutete.
«So», sagte Mr. Bredon. «Nun kann der Spaß beginnen.» Mit diesen Worten zog er sich so tief wie möglich in den Schatten einer großen armoire normande zurück.
«Guten Abend», sagte der Neuankömmling in bewundernswertem Französisch zu dem Diener. «Ich bin Lord Peter Wimsey und komme auf Einladung des Comte de Rueil. Ist Monsieur le Comte zu Hause?»
«Milord Peter Wimsey?
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