Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
täuschen.«
Vielleicht war es besser, alle Zweifel zu zerstreuen. Harriet holte langsam das Foto hervor. Mrs. Weldon riß es ihr aus der Hand.
»O mein Gott! O mein Gott!«
Harriet läutete, ging auf den Flur, um den Kellner abzufangen, und bestellte einen kräftigen WhiskySoda. Als dieser kam, trug sie ihn selbst ins Zimmer und flößte ihn Mrs. Weldon ein. Dann holte sie ein frisches Taschentuch und wartete, daß der Sturm sich legte. Sie setzte sich auf die Sessellehne und tätschelte Mrs. Weldon unbeholfen den Rücken. Zum Glück steigerte sie sich nur in ein wildes Schluchzen und nicht in einen hysterischen Anfall. Harriets Achtung vor Mrs. Weldon wuchs. Als das Schluchzen sich ein wenig legte und die zitternden Hände an der Handtasche herumzufummeln begannen, drückte Harriet ihr das Taschentuch zwischen die Finger.
»Vielen, vielen Dank«, sagte Mrs. Weldon schwach. Sie wischte sich die Augen und hinterließ dabei mit ihrem Make-up rote und schwarze Striche im Taschentuch. Zuletzt schneuzte sie sich die Nase und richtete sich auf.
»Entschuldigen Sie«, begann sie hilflos.
»Keine Ursache«, sagte Harriet. »Es war sicher ein arger Schock für Sie. Möchten Sie sich vielleicht ein wenig die Augen auswaschen? Es täte Ihnen sicher gut.«
Sie besorgte Schwamm und Handtuch. Mrs. Weldon wusch die grotesken Spuren ihres Kummers ab, und aus den Falten des Handtuchs kam das bläßliche Gesicht einer Fünfzig- bis Sechzigjährigen zum Vorschein, unendlich würdevoller in seinen natürlichen Farben. Sie wollte instinktiv zur Handtasche greifen, doch dann ließ sie es.
»Ich sehe schrecklich aus«, sagte sie mit einem kurzen, bitteren Lachen, »aber – was spielt das jetzt noch für eine Rolle?«
»Darüber würde ich mir keine Gedanken machen«, sagte Harriet. »Sie sehen durchaus hübsch aus. Ganz ehrlich. Kommen Sie, setzen Sie sich wieder. Zigarette? Und nehmen Sie ein Phenacetin von mir. Sie haben wahrscheinlich böse Kopfschmerzen.«
»Danke. Sie sind so lieb. Ich mache Ihnen jetzt auch keine Scherereien mehr. Sie hatten schon genug.«
»Aber nicht doch. Ich möchte Ihnen nur gern helfen können.«
»Sie können. Wenn Sie nur wollen. Sie sind bestimmt sehr klug. Sie sehen klug aus. Ich bin nicht klug. Ich wollte, ich wär’s. Ich glaube, ich wäre glücklicher gewesen, wenn ich klüger wäre. Es muß schön sein, etwas tun zu können. Ich habe schon oft gedacht, wenn ich wenigstens Bilder malen oder ein Motorrad fahren könnte, hätte ich mehr vom Leben.«
Harriet bestätigte ihr ernst, daß es vielleicht ganz gut sei, eine Beschäftigung zu haben.
»Aber dafür bin ich natürlich nie erzogen worden«, sagte Mrs. Weldon. »Ich habe immer für meine Gefühle gelebt. Ich kann nichts dafür. Wahrscheinlich bin ich so geschaffen. Meine Ehe war natürlich ein Trauerspiel. Aber das ist ja nun vorbei. Und mein Sohn – Sie glauben vielleicht nicht, daß ich schon alt genug bin, um einen erwachsenen Sohn zu haben, meine Liebe, aber ich habe blutjung geheiratet – mein Sohn hat mich jedenfalls bitter enttäuscht. Er hat kein Herz – und das ist schon sonderbar, wo ich selbst doch eigentlich nur Herz bin. Ich liebe meinen Sohn, Miss Vane, aber die jungen Leute haben so gar kein Mitgefühl. Wenn er nur netter zu mir gewesen wäre, hätte ich in ihm und für ihn leben können. Alle Leute haben immer gesagt, was für eine wundervolle Mutter ich gewesen sei. Aber man ist so entsetzlich einsam, wenn einen die eigenen Kinder verlassen. Kann man es einer Frau da wirklich verdenken, wenn sie sich ein kleines bißchen Glück erhaschen möchte?«
»Das kenne ich«, sagte Harriet. »Ich hab’s auch versucht. Es hat aber nicht geklappt.«
»Nein?«
»Nein. Wir haben Streit bekommen, und dann – nun ja, er starb, und man dachte, ich hätte ihn ermordet. Ich hatte es natürlich nicht getan; es war jemand anders. Aber es war alles sehr, sehr häßlich.«
»Sie Ärmste. Aber dafür sind Sie wenigstens klug. Sie tun etwas. Das muß einem alles leichter machen. Aber was soll ich schon tun? Ich weiß ja nicht einmal, wie ich diese schreckliche Geschichte mit Paul jetzt aufklären soll. Aber Sie sind klug und werden mir helfen – nicht wahr?«
»Wenn Sie mir sagen, wie.«
»Ach ja, natürlich. Ich bin so dumm – ich kann das nicht einmal richtig erklären. Aber sehen Sie, Miss Vane, ich weiß, ich weiß ganz genau, daß der arme Paul nie etwas – Unbesonnenes getan hätte. Das konnte er gar nicht. Er war so
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