Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
hier einen Tänzer brauchten, hat er die Stelle vorübergehend angenommen, aber er war so gut, daß die Direktion ihn ganz behalten hat.«
»Aha.« Harriet überlegte, daß es wohl zu schwierig sein würde, Alexis’ Weg von New York durch die kurzlebigen Clubs des Londoner Westends zurückzuverfolgen.
»Ja – Paul hat immer gesagt, es war das Werk der Vorsehung, das ihn und mich hier zusammengeführt hat. Es will einem schon sonderbar vorkommen, nicht? Wir kamen beide ganz zufällig hierher, als wenn es uns bestimmt gewesen wäre, uns zu begegnen. Und jetzt –«
Tränen flossen über Mrs. Weldons Wangen, und sie sah Harriet hilflos an.
»Wir waren beide so traurig und einsam; und wir wollten so glücklich miteinander sein.«
»Es ist sehr traurig«, konnte Harriet nur sagen. »Ich nehme an, Mr. Alexis war leicht erregbar?«
»Wenn Sie damit meinen«, sagte Mrs. Weldon, »daß er so etwas Entsetzliches selbst getan hätte – nein, nie! Ich weiß, daß er es nicht getan hat. Gewiß, er war leicht erregbar, aber mit mir war er so überglücklich. Ich werde nie im Leben glauben, daß er einfach weggegangen sein soll, ohne mir auch nur Lebwohl zu sagen. Das ist nicht möglich, Miss Vane. Und Sie müssen beweisen, daß es nicht möglich war. Sie sind so klug, ich weiß, daß Sie es können. Darum wollte ich mit Ihnen sprechen und Ihnen alles über Paul erzählen.«
»Eins ist Ihnen doch klar«, sagte Harriet langsam. »Wenn er es nicht selbst war, muß es jemand anders getan haben.«
»Warum nicht?« rief Mrs. Weldon lebhaft. »Jemand muß uns unser Glück geneidet haben. Paul war so schön und romantisch – es muß einfach Leute gegeben haben, die auf uns eifersüchtig waren. Oder vielleicht waren es die Bolschewiken. Diese schrecklichen Leute sind zu allem fähig, und ich habe erst neulich in der Zeitung gelesen, daß es in England nur so wimmelt von ihnen. Die ganzen Paßgesetze helfen überhaupt nicht, sie draußen zu halten, stand da. Ich nenne es einfach ungehörig, daß man die alle hier hereinläßt, damit sie jedem nach dem Leben trachten können, und diese Regierung ermuntert sie auch noch dazu. Sie haben Paul ermordet, und mich wird es nicht wundern, wenn sie demnächst Bomben auf das Königspaar werfen. Da gehört ein Riegel vorgeschoben, sonst haben wir als nächstes eine Revolution. Die verteilen ja ihre widerwärtigen Flugblätter sogar schon bei der Marine.«
»Na ja«, meinte Harriet, »wir müssen mal abwarten, was herauskommt. Ich fürchte, Sie werden einiges davon der Polizei erzählen müssen. Das wird leider nicht sehr angenehm für Sie sein, aber die Polizei wird so viel wie möglich wissen wollen.«
»Es soll mir gleich sein, was ich alles durchmachen muß«, antwortete Mrs. Weldon, indem sie sich tapfer die Augen trocknete, »wenn ich nur dazu beitragen kann, Pauls Andenken rein zu halten. Haben Sie vielen Dank, Miss Vane. Jetzt habe ich Ihnen soviel Zeit genommen. Sie waren sehr freundlich.«
»Nichts zu danken«, sagte Harriet. »Wir werden unser Möglichstes tun.«
Sie begleitete ihre Besucherin zur Tür, dann setzte sie sich in den Sessel und rauchte nachdenklich eine Zigarette. War die Aussicht auf eine Ehe mit Mrs. Weldon ein ausreichendes Selbstmordmotiv? Das glaubte sie eigentlich nicht. Solchen Dingen konnte man auf andere Weise aus dem Weg gehen. Aber bei labilen Menschen wußte man natürlich nie.
6
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Das Zeugnis des ersten Barbiers
Wohlmeinender alter Mann.
THE SECOND BROTHER
FREITAG, 19. JUNI – NACHMITTAG UND ABEND
»Können Sie mir wohl sagen«, erkundigte sich Lord Peter, »was aus dem alten Mr. Endicott geworden ist?«
Der Geschäftsführer des Feinkostladens, der illustre Kunden gern persönlich bediente und sich eben anschickte, schwungvoll einen Schinken aufzuspießen, hielt mitten in der Bewegung inne.
»O ja, Mylord. Er hat ein Haus in Ealing. Hin und wieder schaut er hier herein und holt sich ein Gläschen saure Gurken von unserer Hausmarke. Ein sehr ungewöhnlicher alter Herr, dieser Mr. Endicott.«
»Das kann man wohl sagen. Ich habe ihn in letzter Zeit nicht mehr gesehen und fürchtete schon, daß ihm etwas zugestoßen sein könnte.«
»Um Himmels willen, nein, Mylord. Er hält sich prächtig gesund. Mit sechsundsiebzig Jahren hat er noch angefangen, Golf zu spielen, und sammelt Nippfiguren. Es geht nichts über ein Steckenpferd, um einen am Leben zu erhalten, sagt er.«
»Sehr richtig«, antwortete Wimsey. »Ich muß ihn demnächst mal
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