Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
Kind, als ich John Weldon heiratete, viel zu jung, um zu wissen, was Liebe ist. Ich war eine Schlafwandlerin, ehe ich Paul kennenlernte. Ich will nicht sagen, daß es nicht andere Männer gegeben hätte, die mich hätten heiraten wollen (ich bin sehr früh Witwe geworden), aber die bedeuteten mir nichts – gar nichts. ›Das Herz eines Mädchens mit der Erfahrung einer Frau‹ – so nett hat Paul es ausgedrückt. Und das stimmte, mein Gott, ja, es stimmte.«
»Gewiß«, sagte Harriet, um Überzeugung in ihrer Stimme bemüht.
»Paul – er war so schön und so elegant – wenn Sie ihn doch nur hätten sehen können, wie er war! Und er war so bescheiden und kein bißchen eingebildet, obwohl ihm doch alle Frauen nachliefen. Er hat sich lange nicht getraut, mit mir zu sprechen – mir zu sagen, was er für mich empfand, meine ich. Im Grunde mußte sogar ich den ersten Schritt tun, sonst hätte er nie den Mut gefunden, obwohl doch völlig klar war, wie er fühlte. Er hat sogar gemeint, wir sollten die Hochzeit bis Juni verschieben, obwohl wir uns schon im Februar verlobt haben. Er fand – es war so reizend und rücksichtsvoll von ihm – wir sollten noch warten und versuchen, den Widerstand meines Sohnes zu überwinden. Natürlich machte seine Situation ihn empfindlich. Sehen Sie, ich bin recht wohlhabend, und Paul hatte natürlich keinen Penny, der arme Junge, und er hat sich immer geweigert, irgendwelche Geschenke von mir anzunehmen, bevor wir verheiratet wären. Er hat sich schon immer allein durchschlagen müssen, weil diese schrecklichen Bolschewiken ihm nichts gelassen haben.«
»Wer hat denn anfangs für ihn gesorgt, als er nach England kam?«
»Die Frau, die ihn herübergebracht hatte. Die ›alte Natascha‹ hat er sie immer genannt und gesagt, sie sei eine Bäuerin gewesen und ihm völlig ergeben. Aber sie ist sehr früh gestorben, und dann hat sich die Familie eines jüdischen Schneiders seiner angenommen. Sie haben ihn adoptiert und ihm die britische Staatsangehörigkeit verschafft und ihm ihren Namen gegeben: Goldschmidt. Danach ist dann irgendwie ihr Geschäft kaputtgegangen, und sie wurden furchtbar arm. Paul mußte Botengänge machen und Zeitungen verkaufen. Dann haben sie versucht, nach New York auszuwandern, aber da war es noch schlimmer. Dann sind sie gestorben, und Paul mußte selbst für sich sorgen. Über diese Zeit in seinem Leben hat Paul nicht gern gesprochen. Es war alles so entsetzlich für ihn – wie ein böser Traum.«
»Er wird doch irgendwo zur Schule gegangen sein?«
»O ja – auf eine gewöhnliche staatliche Schule mit all den armen Kindern aus der Oststadt. Das hat er sehr gehaßt. Sie haben ihn immer ausgelacht, weil er so zart war. Immer sind sie so grob mit ihm umgegangen, und einmal haben sie ihn auf dem Schulhof umgeworfen, daß er lange krank war. Und er war so furchtbar einsam.«
»Was hat er nach der Schule gemacht?«
»Da hat er Arbeit in einem Nachtclub gefunden und Gläser gespült. Er sagt, die Mädchen dort seien nett zu ihm gewesen, aber über die Zeit hat er natürlich nicht viel erzählt. Er war ja so empfindlich. Immer meinte er, die Leute würden auf ihn herabsehen, wenn sie wüßten, daß er schon solche Arbeiten gemacht hat.«
»Dort hat er dann wohl das Tanzen gelernt«, meinte Harriet nachdenklich.
»O ja – und er war ein großartiger Tänzer. Wissen Sie, das lag ihm im Blut. Als er alt genug war, hat er Arbeit als professioneller Tanzpartner gefunden und hatte ein ganz gutes Auskommen, obwohl das natürlich nicht das Leben war, das er sich wünschte.«
»Er hat also ganz gut davon gelebt«, meinte Harriet langsam, während sie in Gedanken bei dem übereleganten Anzug und den handgenähten Schuhen weilte.
»Ja, er hat sehr hart gearbeitet. Aber er war nie sehr kräftig, und mir hat er gesagt, daß er mit dem Tanzen nicht mehr lange weitermachen könne. Er hatte irgend etwas am Knie, Arthritis oder so, und er hatte Angst, das würde immer schlimmer werden und ihn zum Krüppel machen. Ist das nicht alles furchtbar traurig? Paul war doch so romantisch, und so schöne Gedichte hat er geschrieben. Er liebte alles, was schön war.«
»Was hat ihn nach Wilvercombe geführt?«
»Oh, er ist nach England zurückgekommen, als er siebzehn war, und hat in London gearbeitet. Aber das Lokal ist pleite gegangen oder wurde von der Polizei geschlossen oder irgend etwas Ähnliches, und da hat er von seinen Ersparnissen hier Urlaub gemacht. Und als er sah, daß sie
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