Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
Ländern. Rußland war es jedenfalls nicht, denn ich hab ihn gefragt, und da hat er nein gesagt. Ich fand das sehr komisch, denn er sagte, er ist nie in einem fremden Land gewesen, außer in Rußland, als er noch klein war, und natürlich in Amerika.«
»Haben Sie irgendwem von diesen Briefen erzählt?«
»Nein. Sehen Sie, Paul hat doch immer gesagt, es würde ihm schaden, wenn man davon spricht. Er hat gesagt, die Bolschewiken bringen ihn um, wenn etwas davon herauskommt. Ich hab zu ihm gesagt: ›Ich weiß nicht, wie du das meinst‹, hab ich gesagt, ›ich bin doch keine Bolschewikin‹, hab ich gesagt, ›und ich kenne auch keine von diesen Leuten, also was kann es dir schon schaden, wenn du mir davon erzählst?‹ Aber jetzt, wo er tot ist, kann es ihm ja sowieso nicht mehr schaden, oder? Außerdem, wenn Sie mich fragen, ich glaube sowieso nicht, daß es Bolschewiken waren. Ich meine, es klingt nicht sehr wahrscheinlich, oder? Ich hab zu ihm gesagt: ›Wenn du erwartest, daß ich das schlucke, dann verlangst du aber eine ganze Menge‹, hab ich gesagt. Aber er wollte es mir nun mal nicht erzählen, und das hat unsere Freundschaft schon ein bißchen abgekühlt. Ich meine, wenn man mit einem Mann so befreundet ist wie ich mit Paul, dann erwartet man doch eine gewisse Rücksichtnahme.«
»Natürlich«, sagte Harriet verständnisvoll. »Es war ein großer Fehler von ihm, nicht völlig offen Ihnen gegenüber zu sein. Ich glaube, ich an Ihrer Stelle hätte sogar guten Gewissens herauszubekommen versucht, woher die Briefe kamen.«
Leila spielte geziert mit einem Stückchen Brot.
»Um ehrlich zu sein«, gab sie zu, »einmal hab ich auch einen ganz kleinen Blick riskiert. Ich fand einfach, das war ich mir schuldig. Aber da stand nur Quatsch drin. Nicht ein einziges Wort konnte man davon verstehen.«
»War es eine Fremdsprache?«
»Na ja, ich weiß nicht. Es waren lauter Druckbuchstaben, und in manchen Wörtern waren überhaupt keine Selbstlaute drin. Man konnte sie gar nicht aussprechen.«
»Klingt nach einer Geheimschrift«, meinte Antoine.
»Ja, das hab ich mir auch gedacht. Ich fand es furchtbar komisch.«
»Aber«, sagte Harriet, »ein gewöhnlicher Erpresser würde doch keine Briefe in Geheimschrift schreiben?«
»Ha, warum denn nicht? Ich meine, es könnte ja eine Bande gewesen sein, verstehen Sie, wie in diesem Roman, Die Spur der purpurnen Python. Haben Sie den gelesen? Die purpurne Python war nämlich ein türkischer Millionär und hatte ein geheimes Haus mit lauter stahlverkleideten Zimmern und luxuriösen Diwans und Obelisken –«
»Obelisken?«
»Na ja, Sie wissen schon. Nicht ganz anständige Frauen. Und er hatte Agenten in allen Ländern Europas, die belastende Briefe aufgekauft haben, und an seine Opfer hat er in Geheimschrift geschrieben und die Briefe mit einem Schnörkel in purpurroter Tinte unterschrieben. Nur die Freundin des englischen Detektivs hat sein Geheimnis herausbekommen, indem sie sich als eine Obeliske verkleidete, und der Detektiv, der in Wirklichkeit Lord Humphrey Chillingfold war, kam mit der Polizei gerade rechtzeitig an, um sie aus der schändlichen Umarmung der purpurnen Python zu retten. Das war ein furchtbar aufregendes Buch. Paul hat viele solcher Bücher gelesen – ich glaube, da wollte er sich Ideen holen, um die Bande zu überlisten. Ins Kino ist er auch gern gegangen. Aber natürlich gewinnt in solchen Geschichten am Ende immer der Held, und der arme kleine Paul hatte nun wirklich nicht das Zeug zu einem Helden. Einmal hab ich zu ihm gesagt: ›Das ist ja alles schön und gut‹, hab ich gesagt, ›aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie du in eine Opiumhöhle voller Gangster gehst, mit einer Pistole in der Tasche, und vergast und niedergeschlagen wirst und dann deine Fesseln abwirfst und den Unterweltkönig mit einer elektrischen Lampe angreifst. Du hättest doch Angst, dir weh zu tun‹, hab ich gesagt. Und das hätte er auch.«
Mr. da Soto gluckste beifällig.
»Da hast du’s ihm aber schön gegeben, Schatzi. Der arme Alexis war ja ein Freund von mir, aber Courage hatte er überhaupt keine. Ich hab zu ihm gesagt, wenn er mir nicht aus den Füßen bleibt und der kleinen Leila nicht selbst die Wahl läßt, mit wem sie gehen will, kriegt er von mir eins aufs Maul. Ich kann Ihnen sagen, der war halbtot vor Angst.«
»Stimmt«, sagte Leila. »Und eine Frau kann natürlich keine Achtung vor einem Mann haben, der sich nicht mal wehren
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