Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
Garten hinausgegangen, und zwar durch den Dienstboteneingang unter der Treppe zur Musikergalerie. Ich blieb im Garten, bis der Sir Roger de Coverley vorbei war –«
»War jemand bei Ihnen, Sir?«
»Nein, niemand.«
»Sie waren also allein im Garten von – ja, von zwanzig nach eins bis nach zwei. Ziemlich ungemütlich, nicht wahr, Sir, bei diesem Schnee?« Der Polizeichef blickte scharf von Tonys verschmutzten und durchnäßten weißen Schuhen zu seinem gequälten Gesicht.
»Das ist mir gar nicht aufgefallen. Es war so heiß hier drinnen – ich brauchte frische Luft. Gegen zwanzig vor zwei sah ich die Weihnachtssänger kommen – ich glaube, sie haben mich auch gesehen. Kurz nach zwei bin ich dann wieder reingegangen –«
»Wieder durch den Dienstboteneingang, Sir?« »Nein, durch die Gartentür auf der andern Seite des Hauses, am Ende des Korridors, der am Gobelinzimmer vorbeiführt. Ich hörte, daß im Ballsaal schon gesungen wurde, und zwei Männer saßen in der kleinen Nische am Fuß der Treppe auf der linken Seite des Korridors. Ich glaube, der eine war der Gärtner. Ich bin ins Gobelinzimmer gegangen –«
»Mit einer bestimmten Absicht, Sir?«
»Nein – nur daß mir nicht besonders danach war, mich wieder unters Volk zu mischen. Ich wollte meine Ruhe haben.« Er hielt inne. Der Polizeichef sagte nichts. »Dann bin ich ins Gobelinzimmer gegangen. Das Licht war aus. Als ich es anknipste, sah ich – Miss Grayle. Sie lag direkt neben dem Heizkörper, und ich dachte, sie sei in Ohnmacht gefallen. Als ich zu ihr hinging, sah ich, daß sie – tot war. Ich bin nur so lange dortgeblieben, bis ich mir vollkommen sicher war, dann bin ich in den Ballsaal gegangen und habe Alarm geschlagen.«
»Danke, Sir. Darf ich Sie jetzt fragen, welcher Art Ihre Beziehungen zu Miss Grayle waren?«
»Ich – verehrte sie sehr.«
»Waren Sie mit ihr verlobt, Sir?«
»Nein, nicht direkt.«
»Kein Streit, kein Mißverständnis – nichts dergleichen?« »O nein!«
Polizeichef Johnson sah ihn noch einmal von oben bis unten an. Er schwieg, doch seine Erfahrung sagte ihm: »Der lügt.«
Laut bedankte er sich bei Tony und entließ ihn. Der Weiße König stapfte müde hinaus, und der Rote König nahm seinen Platz ein.
»Miss Grayle«, sagte Frank Bellingham, »war mit meiner Frau und mir befreundet; sie wohnte bei uns im Haus. Mr. Lee ist ebenfalls unser Gast. Wir sind alle zusammen hierhergekommen. Ich glaube, es gab so etwas wie ein Einvernehmen zwischen Miss Grayle und Mr. Lee – keine eigentliche Verlobung. Sie war ein sehr lustiges, lebhaftes Mädchen und sehr beliebt. Ich kenne sie seit etwa sechs Jahren, und meine Frau kennt sie seit unserer Hochzeit. Ich wüßte niemanden, der etwas gegen sie gehabt haben könnte. Ich habe mit ihr den vorletzten Tanz getanzt – einen Walzer. Danach kam ein Foxtrott und danach der Sir Roger. Nach dem Walzer ist sie von mir fortgegangen; ich meine, sie hätte gesagt, sie wolle nach oben gehen und sich frisch machen. Ich glaube, sie ist durch die Tür am oberen Ende des Ballsaals hinausgegangen. Dann habe ich sie nicht mehr wiedergesehen. Das Ankleidezimmer für die Damen ist im ersten Stock, gleich neben der Bildergalerie. Man kommt über die Treppe neben dem Durchgang zum Garten hin. Dazu muß man an der Tür zum Gobelinzimmer vorbei. Sonst kommt man zu diesem Ankleidezimmer nur noch über die Treppe an der Ostseite des Ballsaals, die zur Bildergalerie hinaufführt. Man müßte dann durch die Galerie gehen, um hinzukommen. Ich kenne das Haus gut; meine Frau und ich waren schon oft hier zu Gast.«
Als nächstes kam Lady Hermione, deren sehr ausführliche Aussage auf folgendes hinauslief:
»Charmian Grayle war ein Früchtchen, und es ist nicht schade um sie. Es wundert mich überhaupt nicht, daß jemand sie erwürgt hat. Frauen wie sie gehören erwürgt. Ich hätte es mit Freuden selbst getan. Sie hat Tony Lee die letzten sechs Wochen das Leben zur Hölle gemacht. Heute abend habe ich sie erst mit Mr. Vibart flirten sehen, eigens zu dem Zweck, Mr. Lee eifersüchtig zu machen. Auch Mr. Bellingham und Mr. Playfair mußte sie schöne Augen machen. Sie mußte jedem schöne Augen machen. Ich könnte mir vorstellen, daß mindestens ein halbes Dutzend Leute guten Grund hatte, ihr den Tod zu wünschen.«
Mr. Vibart, der in einem grellbunten Polokostüm hereinkam und lächerlicherweise noch immer sein Steckenpferd mit sich herumtrug, sagte, er habe an diesem Abend mehrere Male mit Miss
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