Wimsey 16 - Mord in mageren Zeiten
bei der Chorprobe.»
Und wirklich war Harriet ihrer Freundin nicht böse, sie war nur absolut ratlos. Ob Miss Twitterton noch immer an die schreckliche Panne während der Ermittlung im Mordfall Noakes dachte, als Harriet Peter von Twitters' Affäre mit Crutchley erzählt hatte und Peter die Information an die Polizei weitergab? Miss Twitterton hatte damals ihr Schweigen nicht explizit verlangt, ging aber wohl von einer vertraulichen Behandlung aus, und dieses Vertrauen war ent täuscht worden. Das war nun fast vier Jahre her und hatte nie einen Schatten auf das freundschaftliche Verhältnis zwischen ihnen beiden geworfen. Miss Twitterton schien sogar überglücklich gewesen zu sein, als Harriet sich mit dem erweiterten Familienanhang auf unbestimmte Zeit im Dorf niederließ. Mrs. Ruddle unterbrach den Gedankenfluss zu diesem Thema, als sie schwer bepackt aus dem Dorfladen kam und sich Harriet anschloss, da sie bis zum Tor von Talboys denselben Weg hatten.
«Ich sag zu Mr. Willis, wie der mein Fitzelchen Käse abwiegt», sagte Mrs. Ruddle, «es hat doch wirklich merkwürdige Menschen. Mrs. Hodges Susan war mit mir im Laden und hat ihre Speckration gekauft, das ist die, die ihr Cottage an diesen Lieutenant Brinklow vermietet, und sie sagt, er hat ganz scheußliche Zahnschmerzen, seit Tagen schon, sagt sie, und letzten Dienstag hat sie ihm geraten, er soll mal zum Zahnarzt gehen, und er hat nichts davon wissen wollen, und jetzt, sagt sie, ist dem Armen schon das ganze Gesicht geschwollen, dass man ihn kaum wieder erkennt. Der muss Todesqualen ausstehen, Mrs. Ruddle, sagt sie zu mir, Todesqualen, und wieder sagt sie zu ihm, jetzt gehen Sie aber doch zum Zahnarzt, und da sagt er, er kann nicht, weil er so furchtbar Angst vorm Zahnarzt hat, dass er lieber die Schmerzen aushält. Also sag ich zu ihr, Susan, sag ich, das sind ja nicht bloß Schmerzen, man kann ja Blutvergiftung kriegen von so einem faulen Zahn, wie der Mann von meiner Cousine, drüben in Lopsley, der fast dran gestorben ist. Ich weiß das, Mrs. Ruddle, sagt sie, aber was kann ich machen? Ich kann ihn ja nicht zwingen, oder? Er meint, er kann nur nach London zum Zahnarzt. Was sagt man dazu. Ein Pilot, der gegen die Messerschmitts fliegt, im Flugzeug tapfer wie 'n Löwe, aber vorm Zahnarzt hat er Angst, da ist man doch platt, was?» «In der Tat, Mrs. Ruddle», sagte Harriet.
Fünf
Wer Weib und Kinder besitzt hat dem Schicksal Geiseln gegeben.
Francis Bacon, «Of Marriage and Single Life»,
Essays, 1625
Als sie nach Hause kam, drang Gelächter aus der Küche – Gelächter von Erwachsenen. Beim Näher treten fand Harriet ihre Schwägerin Lady Mary Parker, vormals Lady Mary Wimsey, am Küchentisch sitzend vor, von Mrs. Trapp mit Tee und Unterhaltung versorgt. Ihr fiel ein, dass Mrs. Trapp Lady Mary schon als kleines Kind gekannt haben musste, und wie bei Dienstboten, die schon so lange zum Haus gehörten, üblich (über solche Weisheiten verfügte Harriet dank ihrer Eheschließung mit Peter!), sprach sie in ausgesprochen vertraulichem Ton und mit sparsamer Höflichkeit zu den Erwachsenen, die früher die Kinder der Familie gewesen waren. «Eine richtige Meute Wilder haben Sie Ihrer Ladyschaft da auf den Hals gehetzt!», sagte Mrs. Trapp gerade. «Gefräßig wie die Heuschrecken – einfach nicht satt zu kriegen und immer in Bewegung. Dass man sich als Mutter dieser Bande nicht schämt, hier auch noch aufzukreuzen!»
«Na, kommen Sie schon, Mrs. Trapp», erwiderte Mary. «Immerhin waren sie nicht in ihre Winterunter wäsche eingenäht und völlig verlaust wie die Landverschickten, über die man in den Zeitungen liest.» «Das stimmt natürlich, Mylady», sagte Mrs. Trapp. «Die armen Würmer. Vielleicht öffnet das den Leuten mal die Augen dafür, was hier los ist. Meine Nichte von der Heilsarmee kann Geschichten erzählen, dass Ihnen die Haare zu Berge stehen. Im East End Dienst zu machen ist schlimmer als Missionsarbeit in Afrika, sagt sie. Sie meint, je mehr Elendsviertel Hitler in Schutt und Asche legt, desto besser – natürlich nur, wenn die Leute inzwischen unten in der U-Bahn sind.»
«Mary!», rief Harriet. «Wie schön, dich zu sehen.» «Ich habe die Kinder so sehr vermisst, dass Charles mich einen Tag eher hergeschickt hat», sagte Mary und stand auf, um sie zu umarmen. «Aber man hört und sieht nichts von ihnen. Sie müssen irgendwo herumstromern.»
«Sie sind Pilze sammeln, wie angekündigt», erklärte Mrs. Trapp. «Um die
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