Wind der Gezeiten - Roman
langsam, und dabei sah er sie an. Sie erwiderte seinen Blick und erkannte die Frage darin. Sie nickte kurz und zuckte dabei die Achseln. Ja, sie hatte wieder an Edmond gedacht und, ja, es ging ihr gerade nicht gut. Wie immer verstand auch er sie sofort. Oft bedurfte es keiner Gesten oder Zeichen mehr, sich ihm mitzuteilen, und umgekehrt galt dasselbe. Zwischen ihnen bestand eine besondere Verbindung. Jerry hatte das einmal geäußert, und er hatte ziemlich erstaunt dabei ausgesehen, als könnte er es selbst nicht so ganz begreifen. Er hatte sich immer zugutegehalten, der einzige Mensch zu sein, der richtig verstand, was der stumme Riese ausdrücken wollte. Deirdre hatte Jerry jedoch einiges voraus. Sie erkannte auch die leisen Zwischentöne in Olegs Stimmungen, seine Beweggründe und seine Gedanken. Manchmal reichte ein einziger Blick auf ihn, um anhand seiner Körperhaltung und des Winkels, in dem sein Kopf sich neigte, zu erraten, welcher Ausdruck gerade auf seinem Gesicht stand. Wandte er sich dann zu ihr um, fand sie sich bestätigt. Es war, als hätte sie ungewöhnliche Instinkte, wenn es um ihn ging. Wie Jerry verwendete sie bei der Unterhaltung mit Oleg die Zeichensprache, die ihr von Anfang an keine Schwierigkeiten bereitet hatte. Ihre Großmutter war taub gewesen, Deirdre hatte schon als Kind viele Zeichen beherrscht und sich den Rest von Jerry und Oleg abgeschaut. Doch nicht allein die Gebärden der Taubstummen befähigten sie, Oleg zu verstehen. Es war eher eine intuitive Wahrnehmung, ein stilles Erkennen seines Wesens. Obwohl er noch nie ein Wort gesagt hatte und sie keine Ahnung hatte, woher er stammte oder was er früher getan hatte, kannte sie ihn fast so gut wie sich selbst. Sie wusste, dass er klug und wissbegierig war. Er konnte sogar lesen. In seinem Seesack trug er einige Bücher mit sich herum, in denen er manchmal blätterte. Oft saß er einfach nur da und beobachtete seine Umgebung– einen Pelikan im Sturzflug, eine Karettschildkröte auf ihrem Weg zum Meer, ein auslaufendes Schiff. Kinder hatte er sehr gern. Wenn er mit Johnny spielte, verzog sich sein sonst so ernstes Gesicht sogar manchmal zu einem Lachen. Er war voller Fürsorge und Umsicht und hatte immer alles im Blick. Heckte Johnny Unsinn aus, ahnte Oleg es meist schon vorher und verhinderte die Ausführung. Seine Hände waren so geschickt, dass Deirdre immer wieder darüber staunte. Keiner schlang schneller Knoten als er, und beim Segeln konnte ihn niemand schlagen außer Duncan und vielleicht noch John Evers. Was das Schießen anging, so reichte keiner an Oleg heran. Den Waffengurt legte er nur zum Schlafen ab. Trotz aller offen zur Schau getragenen Wehrhaftigkeit konnte er sanft sein. Nie würde Deirdre vergessen, wie er Faith unmittelbar nach der Geburt gehalten hatte. Wie ein rohes Ei hatte er sie in seine gewaltigen Hände genommen, die den winzigen Körper fast vollständig umschlossen hatten. Später, als alles vorbei war, hatten sie einen langen Blick getauscht und einander damit alles mitgeteilt, was sie fühlten und dachten. Ja, Jerry hatte recht– sie und Oleg waren auf einzigartige Weise verbunden. Es war eine Art von Nähe, die sie noch nie bei einem Mann empfunden hatte, auch nicht bei Edmond. Sie hatte Edmond aufrichtig geliebt, aber er hatte nie zugelassen, dass diese Grenze, die seine Berufung zwischen ihnen zog, überschritten wurde, weshalb ihre Gefühle für ihn immer mit Verzweiflung und Verzicht einhergegangen waren. Mit Oleg hingegen teilte sie ein unerschütterliches, von allen Zweifeln befreites gegenseitiges Verständnis. Die Fremdartigkeit seiner Gesichtszüge zog sie auf unbestimmte Weise an und schien ihn ihr noch näher zu bringen, was sie darauf schob, dass er wie sie entwurzelt war, herausgerissen aus einem anderen Leben.
Sie war sich darüber im Klaren, dass er sie liebte und begehrte. Wie hätte sie es auch nicht wissen können, wenn doch schon ein Blick auf ihn reichte, um es zu spüren? Dieses Gefühl konnte sie nicht erwidern, denn sie hatte ihr Herz Edmond geschenkt, und er hatte es mit sich genommen. Doch sie empfand tiefe Dankbarkeit für dieses Geschenk, das Oleg ihr machte, indem er ihr einfach nur in die Augen sah, so wie er es jetzt gerade tat. Weder fordernd noch sehnsüchtig, sondern einfach nur zuversichtlich, mitfühlend und mit tiefer Zuneigung. Seine Blicke waren wie die Regenbogen– Momente, auf die sie bauen und zaghafte Hoffnung gründen konnte. Ein stummes Versprechen für eine
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