Wind der Gezeiten - Roman
verbracht, doch es hatte auch so viele lichte und fröhliche Momente gegeben. Daran erinnerte Deirdre sich in der letzten Zeit immer häufiger. Es half ihr nicht, das Schreckliche zu vergessen. Das würde sie niemals schaffen, bis an ihr Lebensende nicht. Doch es ließ sich damit ein wenig leichter ertragen. Sich Edmond lachend und übermütig vorzustellen trug dazu bei, die Erinnerung an ihn aus dem Dunkel des Entsetzens zu heben, das sie nach seinem Tod vollständig gefangen gehalten hatte. Er sollte in ihrem Gedächtnis einen schönen, leuchtenden Platz haben, so wie unter diesem Regenbogen.
» Hier, fang! Aber pass auf die Scheren auf! « Jerry warf Deirdre einen Lobster von enormen Ausmaßen zu. Sie fing ihn und packte ihn zu den Langusten, bevor er sie zwicken konnte. Ein zweites Fass war bereits mit Fischen gefüllt, die sie gleich auf dem Markt feilhalten würde. Die Arbeit machte ihr Spaß, viel mehr als die Tätigkeit im Haus. Nur auf Johnny aufzupassen füllte sie nicht aus, zumal der Kleine in den letzten Tagen viel Zeit in Gesellschaft seiner Eltern verbracht hatte. Im Augenblick spielte er, beaufsichtigt von seiner Mutter, in den flachen Wellen mit seinem Spielzeugschiff. Lady Elizabeth saß stumm und niedergeschlagen im Sand, den Blick auf den Horizont gerichtet. Master Haynes war kaum eine Viertelstunde fort, sie würde wohl noch eine Weile benötigen, um über den neuerlichen Abschied hinwegzukommen. Jeder Kummer auf Erden brauchte seine Zeit. Es gab nichts, womit man es schneller hinter sich bringen konnte.
Deirdre rückte ihren Strohhut zurecht. Sie war ins Schwitzen geraten, doch es war ein gutes Gefühl. Je härter sie arbeitete, desto weniger musste sie grübeln. Oleg und Jerry richteten ihre Gerätschaften für den nächsten Fischfang her, während sie die Fässchen zu einem Unterstand trug, wo sie bis zum Verkauf im Schatten stehen konnten. Sie trank aus dem Wasserschlauch, den sie an einem Pfosten aufgehängt hatte, dann winkte sie den Männern, herüberzukommen, um die mitgebrachte Mahlzeit mit ihr einzunehmen. Auch das erinnerte sie jedes Mal an Edmond. Wie er sich gefreut hatte, wenn sie mit einem Korb voller Essen gekommen war. Sein glückliches, argloses Lächeln hatte ihre Sehnsucht nach ihm ins Unermessliche wachsen lassen. Er wäre wahrscheinlich in seinem Versteck verhungert, wenn sie ihm keine Nahrung gebracht hätte, denn er konnte weder jagen noch fischen noch Fallen stellen. Von den paar Früchten und wilden Beeren hätte er in der Wildnis nicht lange überlebt. In der Zeit, als sich noch mehr irische Flüchtlinge und entlaufene Schwarze zu seinem Camp durchgeschlagen hatten, war es ihm besser gegangen, denn jeder hatte etwas zu essen beigesteuert. Vor allem die Schwarzen waren gute Jäger. Nach dem Aufstand, als die Patrouillen alle eingefangen und vertrieben hatten, war nur noch Deirdre geblieben, die sich um ihn hatte kümmern können.
Sein gewaltsamer Tod hatte ihr Inneres in einen Ozean voller quälender Schuldgefühle verwandelt. Unablässig marterte sie sich mit Selbstvorwürfen. Hätte sie doch Barbados nie verlassen! Wäre sie doch nie auf den Gedanken verfallen, ihn von dort fortzulocken! Allein um ihretwillen war er mitgegangen, in dem Punkt machte sie sich nichts vor. Es war ihre Schuld, dass er gestorben war. Mit dieser Last auf ihrer Seele musste sie weiterleben, und das war vielleicht noch furchtbarer als die Erinnerung an den Moment seines Todes. Wie er sie angesehen hatte, kurz bevor der Kazike das Messer in ihn stieß. Das viele Blut. Der lang gezogene Schrei…
Sie schluckte mühsam und schloss die Augen. Versuchte mit aller Macht, sich sein Lächeln in Erinnerung zu rufen.
Ein Schatten verdunkelte die Sonne. Oleg ließ sich mit überkreuzten Füßen vor ihr im Sand nieder. Sein massiver Körper versperrte ihr die Sicht auf den Strand, und sie reckte sich ein wenig, um nachzusehen, wo Jerry blieb. Der Schotte tollte mit Johnny im Wasser herum, manchmal war er selbst noch das reinste Kind.
Sie öffnete den Deckelkorb, holte Brot und Räucherfisch heraus und teilte beides mit Oleg. Für Jerry behielt sie eine Portion zurück. Oleg trank aus dem Wasserschlauch. An seinem dunkelbraunen Hals bewegten sich die Muskelstränge. Sie staunte immer wieder, wie stark er war. Sogar in Augenblicken der Ruhe, so wie diesem, bemerkte man stets seine Kraft. Mit seinen mächtigen Schultern und Armen war er wie ein unbesiegbares Bollwerk.
Er aß konzentriert und kaute
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