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Wind der Gezeiten - Roman

Wind der Gezeiten - Roman

Titel: Wind der Gezeiten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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mittlerweile wieder in ruhigerem Fahrwasser. Mit einem letzten Blick vergewisserte Anne sich, dass ihre Patienten sicher auf Bank und Tisch lagen, bevor sie es wagte, an Deck zu gehen, um nach John Evers zu suchen.
    Draußen war es feucht und kühl und eigenartig still. Immer noch waberte Nebel um die Elise. John stand auf dem Schanzkleid oberhalb vom Steuerhaus und spähte angestrengt in die trübe Suppe, die sie von allen Seiten umgab. Zwischendurch zog er den Kompass zurate und rief dem Steuermann mit gedämpfter Stimme einen Befehl zu. Anne wollte gerade zu ihm hinaufsteigen, als sie das Stöhnen hörte. Jetzt erst bemerkte sie die Verletzten, die am Fuß des Hauptmastes auf den Planken lagen. Der Angriff hatte schwere Opfer gefordert. Überall waren Blutpfützen, und das ganze Deck war übersät mit großen und kleinen Holzsplittern. Sie stammten vom Fockmast, dessen obere Hälfte von der ersten einschlagenden Kanonenkugel zerfetzt worden war und sich in unzählige tödliche Geschosse verwandelt hatte. Zwei Männer hatten es nicht überlebt. Die Matrosen hatten sie zur Seite geschleppt und neben dem Niedergang abgelegt, wo die Leichname nicht im Weg waren. Die Verwundeten wurden vom Schiffskoch versorgt, der seiner Aufgabe mehr schlecht als recht nachging. Eigentlich wäre dies Sache des Segelmeisters gewesen, der sich gut auf das Vernähen von Wunden verstand, doch der war einer der beiden Toten. Anne zögerte nicht. Sofort holte sie frisches Verbandsmaterial aus der Kapitänskajüte. Unterwegs bat sie zwei Männer der Besatzung, ihr zu folgen und dabei zu helfen, den Kapitän und Mistress Felicity ins Alkovenbett zu legen. Bevor die Männer zur Tat schreiten konnten, hüllte Anne Felicitys nackten Oberkörper in ein Laken. Einer der Männer trug die Verletzte zu dem Alkovenbett, dann kam der Kapitän an die Reihe. Sie gingen vorsichtig mit ihm um, doch er kam zu sich und befahl den beiden Männern, ihn auf die Beine zu stellen. Sie gehorchten umgehend, worauf er in den Knien einknickte und anschließend doch ins Bett verfrachtet wurde. Dort lag er Seite an Seite mit Felicity und starrte benommen an die Decke, bis ihm langsam wieder die Augen zufielen. Anne eilte zurück an Deck, um den anderen Verwundeten zu helfen. Sie verband zahlreiche Verletzungen und half dem Koch dabei, den Armbruch des Geschützmeisters zu schienen. Der Mann hatte die ganze Zeit stoisch weiter seine Arbeit verrichtet, einhändig und den gebrochenen Arm mit einer aus seinem Hemd gefertigten Schlinge an den Körper gebunden. Er erduldete die zweifellos sehr schmerzhafte Prozedur, ohne auch nur zu stöhnen. Irgendwann war alles getan, und Anne ging zu John aufs Achterdeck. Seine Augen waren blutunterlaufen vor Anstrengung, sein zerfurchtes Gesicht müde und angespannt. Er stand breitbeinig da und blickte immer noch unablässig in den Nebel, der allmählich lichter zu werden schien. Dafür hatte es angefangen zu nieseln, und auch der Wind frischte auf. Über ihnen spannten sich die aufgezogenen Segel knatternd in der Brise und trieben die Elise vorwärts über die kabbelige See. Schwankend trat Anne zu dem Bootsmann und hielt sich an der Reling fest.
    » Kommen wir voran? « , fragte sie, bloß um etwas zu sagen.
    Er nickte nur.
    » Dann gehe ich jetzt mal wieder zum Kapitän und zu Miss Felicity. « Auf dem Weg in die Kajüte merkte sie, wie erschöpft sie war. Die durchwachte Nacht und die stundenlange Arbeit forderten ihren Tribut. Nur zu gern hätte sie sich hingelegt. Doch dafür stand nur die harte Bank zur Verfügung. Also bekämpfte sie ihre Müdigkeit und setzte sich kurzerhand auf den Fußboden neben das Bett, um näher bei Felicity und Duncan zu sein.
    Nach kurzer Zeit wachte Felicity auf und wollte stöhnend wissen, wo sie sei, worauf Anne sie beruhigte und ihr etwas von dem Mohnsaft einflößte, den sie in den vergangenen Tagen auch schon Peter, dem Schiffsjungen, verabreicht hatte. Felicity trank ein paar Schlucke und wurde rasch wieder müde.
    » Wie geht es Duncan? « , fragte sie, ohne zu merken, dass sie neben ihm lag. Bevor Anne ihr antworten konnte, war Felicity auch schon wieder eingeschlafen. Auch Anne fühlte sich von Müdigkeit eingelullt. Das Schiff bewegte sich in stetem Rhythmus von Wellental zu Wellental, und mit der Zeit fielen ihr die Augen zu. Sie träumte von Barbados, von kristallklaren Lagunen, reinweißen Stränden und dem lichten Grün der Zuckerrohrfelder. Von Summer Hill, ihrem Zuhause, dem einzigen,

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