Wind des Südens
wär’s. Ich glaube, mehr brauchen wir für den Anfang nicht. Lies diese Entwürfe mal durch, und sag mir, was du davon hältst.«
Sie studierte die Schriftstücke sorgfältig, fuhr mit dem Zeigefinger unter den Zeilen entlang. »Ganz gut, finde ich.«
»Ganz gut? Sie sind großartig, ohne mich selbst loben zu wollen. Amtschinesisch in seiner ausgeprägtesten Form. Die Hälfte macht überhaupt keinen Sinn, der Rest ist zu unseren Gunsten. Geh doch jetzt ein bisschen spazieren, damit ich mich auf meine Kalligraphie konzentrieren kann. Du könntest unter irgendeinem Vorwand im Verwaltungsbüro reinschauen und einen Bogen Geschäftspapier mitnehmen. Ich muss das Regierungssiegel kopieren. Bisschen Prestige kann nicht schaden.«
Er arbeitete über den starren Pergamentbögen, summte vor sich hin, während die Zeit wie im Flug verging, schritt im Zimmer auf und ab, bis die Tinte getrocknet war, und lehnte sich dann zurück, um sein Werk zu bewundern. Niemand, der Nevilles gewöhnliche Handschrift kannte, seine kraftvollen Schwünge, käme je auf den Gedanken, dass derselbe Mann zu solch perfekten Buchstaben fähig war, wie er sie auf diese Dokumente gesetzt hatte. Dort gab es keine großartigen Schwünge, keine Häkchen an den Großbuchstaben, lediglich Buchstaben, wie sie eben sein sollen … gleichmäßig groß, gleichmäßig geneigt, leicht im Aufstrich und etwas kräftiger im Abstrich.
»Eine Siegerhandschrift«, nannte er seine Begabung gern. Und zu seinem großen Vergnügen wusste einzig und allein Esme, dass dies seine persönliche Handschrift war. Die andere, grobschlächtigere Schrift war verstellt. Er grinste.
Seine Frau ging nicht gern allein auf die Straße. Nicht mehr. Einstmals hätte sie sich überhaupt nichts dabei gedacht, schon gar nicht an einem schönen Tag wie diesem, doch jetzt surrten die Schmetterlinge in ihrem Bauch umher wie Maikäfer.
Esme vermisste die bevölkerten Straßen von Hongkong, wo sie mit dem Strom schwimmen konnte. Hier, wo so wenige Fußgänger unterwegs waren, fühlte sie sich dem höflichen Nicken und Grüßen ausgeliefert. Fühlte sich auffällig. Und das machte ihr Sorgen. Sie versuchte, sich zu überzeugen, dass kein Grund zur Sorge vorlag, dass sie in ihrem pflaumenblauen Kostüm und dem hübschen Samthütchen sehr schick aussah, aber sie konnte dieses Gefühl, eine Art Lampenfieber, einfach nicht abschütteln.
»Unsinn«, sagte sie zu sich selbst und zupfte nervös den Schleier ihres Huts zurecht, so dass er halbwegs ihre Augen bedeckte. »Hier droht dir doch keine Gefahr. Warum um alles in der Welt tust du dir das an? So, wie du dich aufführst, könnte man meinen, hinter der nächsten Ecke lauert ein Bär.«
An der nächsten Ecke lauerte zwar kein Bär, doch dort stand ein Hotel, dessen offene Bar sich bis auf die Veranda fortsetzte, und Esme rannte nahezu die Stufen hinauf. Wenige Minuten später saß sie im kühlen, fast menschenleeren Inneren, kippte mit einem Seufzer der Erleichterung einen Brandy und bestellte sich einen weiteren.
Sie verließ das Hotel mit zwei kleinen Flaschen Brandy in ihrem flotten Wildledertäschchen und fühlte sich schon viel besser, beinahe heiter, als sie Mr. Hillier traf, der sie voller Begeisterung begrüßte.
»Welch eine Freude, Sie zu sehen! Heute brauchte ich wahrhaftig eine Aufmunterung, und ihr glückliches Lächeln ist genau das Richtige für mich.«
»Zu freundlich«, antwortete sie mit blitzenden Augen.
»Keineswegs. Schon, als Sie auf mich zukamen, habe ich Ihr Kostüm bewundert. Perfekt. Und der Samthut bringt es erst so richtig zur Geltung.«
»Danke. Fast hätte ich vergessen, dass Sie von Geschäfts wegen ja ein Auge für Damenmoden haben. Schön, dass Ihnen mein Kostüm gefällt, es ist eine meiner Lieblingsgarderoben.«
»Haben Sie es in Hongkong fertigen lassen?«
»Ja. Von einem französischen Couturier namens Raoul.«
»Unglaublich! Diese Eleganz! Sie können sich glücklich schätzen. Ich fürchte, ich darf nie darauf hoffen, in meinen Geschäften Bekleidung von solch hohem Standard anbieten zu können.«
»Aber warum denn nicht?« Sie kicherte. »Besorgen Sie sich einen guten Schneider, geben Sie ihm gutes Material und einen
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