Wind des Südens
Zahlen brauchte, um im Amt zu bleiben.
»Daran hätte er denken sollen, bevor er Wahlen ausrief«, knurrte Raymond.
Die Einstellung seiner Schwester stellte ihn vor ein Rätsel. Lavinia sollte doch wenigstens ein bisschen Mitleid für ihn aufbringen. Bestürzt schüttelte er den Kopf über ihre Tiraden, wonach es verantwortungslos wäre, sich auf Goldfeldern herumzutreiben und den Sheriff zu spielen, während Regierungsgeschäfte seine Aufmerksamkeit erforderten.
Erst als er die letzten Zeilen las, begann er zu verstehen.
»Und kein Wort von Dir«, schrieb Lavinia erbost. »Kein verdammtes Wort, außer Deiner Mitteilung, dass Du auf der aussichtslosen Suche nach irgendwelchen Meuterern in diese Stadt namens Cooktown zurückwillst, die nicht einmal auf einer Landkarte verzeichnet ist. Und darüber informierst Du mich, nachdem ich Dir einen drängenden Brief nach Cairns geschickt habe, um Dich zur Eile zu mahnen, weil der Premierminister mit Wahlen droht.«
Raymond seufzte. Diesen Brief nach Cairns hatte er offensichtlich verpasst. Und anscheinend hatte auch keiner der Briefe, die er von den Goldfeldern und in jüngster Zeit vom Krankenhaus aus geschickt hatte, sein Ziel erreicht. Das überraschte ihn nicht angesichts des Chaos hier, doch das Wissen darum, dass die Briefe verloren gegangen waren, half ihm auch nicht weiter.
Der Schmerz pochte in seinem Bein. Jetzt schon war der Tag drückend heiß. Die Wolken hingen niedrig, verwandelten die Stadt in ein Dampfbad, und um ihn herum schwatzten alle fröhlich über die Regenzeit, die jetzt jeden Tag anbrechen musste. Raymond fand den Sommer in Brisbane seit jeher als Last, und daher fürchtete er den Sommer tausend Meilen näher am Äquator noch mehr.
Er sah, dass Lavinia ein Postskriptum hinzugefügt hatte, um ihm mitzuteilen, als wäre er ein kleiner Junge im Internat, dass sein Vater enttäuscht von ihm war und sich beim Premierminister dafür entschuldigt hatte, dass er, Raymond, nicht planmäßig zurückgekehrt war.
Raymond erwog, an Lavinia zu schreiben, zu erklären, sich zu entschuldigen, seine Probleme mit dem Geschwür zu schildern, doch hätte das einen Sinn? Es kränkte ihn, dass sie glaubten, er würde seine Pflicht absichtlich vernachlässigen. Er war kein launischer Mensch; er nahm seine Verantwortung sehr ernst, immer schon. So gut musste sie ihn doch kennen.
Zweifel meldeten sich. Er war immer der brave Sohn gewesen – ziemlich verschlossen vielleicht, doch er hatte stets sein Bestes gegeben. Und was verriet dieser elende Brief ihm jetzt – nicht über Lavinia, nicht über seinen Vater, sondern über ihn, Raymond Lewis?
Er kannte die Antwort und drehte bekümmert den Kopf zur Seite.
Raymond Lewis mochte sich als den vorbildlichen Bürger betrachtet haben, doch in seiner Familie zollte man ihm offenbar keinen Respekt. Der Brief wies auf eine tief verwurzelte Missachtung hin, und das fand Raymond überaus traurig.
Die Tage vergingen, und er brachte es nicht fertig, auf Lavinias Brief zu antworten, wenngleich er mehrere Versuche unternahm, bis ihm schließlich bewusst wurde, dass es ihm inzwischen gleichgültig war. Sowohl Lavinias Meinung als auch das diktatorische Verhalten seines Vaters und die verdammte Wahl. Und zusehends ärgerte ihn die sorglose Haltung Dr. Madisons.
»Sie haben gesagt, das Geschwür müsste bis jetzt längst verheilt sein«, griff er ihn an, doch Madison schüttelte den Kopf.
»Gehofft habe ich es. Aber die Infektion hat weiter um sich gegriffen.«
»Wieso?«
»Was soll das heißen: wieso? Sie hat eben um sich gegriffen.«
»Es muss doch einen Grund dafür geben. Wird das Geschwür nicht vernünftig steril gehalten?«
»Wir tun, was wir können!«
»Das kann ich nicht bestätigen. Meiner Meinung nach ist die Behandlung hier sehr nachlässig. An manchen Tagen wird die Wunde überhaupt nicht gereinigt.«
»Das schadet nichts.«
Verstimmt ging Madison weiter, und Raymond wurde wie üblich auf die Veranda gebracht.
Als Joseph kam und berichtete, er hätte mit eigenen Augen gesehen, wie ein Heer von Ameisen Blattläuse gegen Spinnen verteidigte, zeigte Raymond kaum Interesse.
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