Wind des Südens
Speisekammer, die ein wenig mehr Schutz bot als die große offene Küche mit den zerbrochenen Fenstern, wo das Wasser von der Decke tropfte.
Er hoffte, dass Mrs. Kassel sich in die Molkerei geflüchtet hatte, auch wenn es dort vermutlich ziemlich eng war. Als die Glocke geläutet wurde, hatte Neville einige Frauen und Kinder aus den Nachbarhäusern dort hingeschickt. Dann jedoch hörte er die Wirtin rufen und rechnete deshalb damit, dass sie jeden Moment in der Küche erscheinen würde. Als das jedoch nicht geschah, spähte er aus dem Fenster der Speisekammer.
»Dummes Frauenzimmer, bei diesem Wetter Hühner zu jagen«, murmelte er, als Mrs. Kassel weiterhin nicht zu sehen war. »Wahrscheinlich werden die Viecher jetzt herumgeblasen wie Federbälle und lernen das Fliegen auf die harte Tour«, sagte er sich grinsend, während er sich die Szene bildlich vorstellte. Allerdings war ihm klar, dass er Mrs. Kassel suchen musste. Doch in der Speisekammer war er in Sicherheit. Warum also sollte er da draußen in dem Inferno seinen Hals riskieren? Das war ja, als spazierte man unbewaffnet auf einem Schlachtfeld umher! Nevilles Blick fiel auf einen schweren Ledermantel, den Franz gewiss aus Deutschland mitgebracht hatte, denn in diesem Klima brauchte man so ein Kleidungsstück nicht. Von diesem Sturm einmal abgesehen, sagte er sich ärgerlich. Es war, als fordere der Mantel ihn dazu auf, hineinzuschlüpfen.
Neville tat es und versuchte lieber nicht daran zu denken, was für ein Wahnwitz es war. In den Mantel gehüllt, lief er in die Küche, von wo aus er einen besseren Blick auf den Hof hatte. Und da sah er sie, Mrs. Kassel, die Hühnerjägerin, die sich an einen dicken Baum am Tor klammerte. Sie befand sich nicht in der Nähe der Molkerei aus Backstein, sondern nur wenige Meter entfernt von der Küche. Der Baum schwankte wild; seine abgerissenen Äste wirbelten durch die Luft, und er drohte jeden Moment den Halt seiner Wurzeln zu verlieren.
Neville rief Mrs. Kassel zu, sie solle den Baum loslassen und losrennen, bevor es zu spät sei. Doch die Wirtin hielt wegen des heftigen Regens den Kopf gesenkt, und er bezweifelte, dass sie ihn überhaupt gehört hatte. Also rief er noch einmal, und zwar lauter.
»Lassen Sie los, verdammt. Der Baum hält nicht mehr lange. Kommen Sie her. Schnell.«
War sie taub? Starr vor Angst? An dem verdammten Baum festgewachsen? Obwohl Neville wusste, dass es Wahnsinn war, setzte er sich ohne nachzudenken in Bewegung. Geduckt rannte er gegen den Wind an, und ihm wurde schlagartig klar, warum Mrs. Kassel nicht loslassen konnte. Er fühlte sich, als würde er sich einer Welle entgegenwerfen, und hatte Mühe, die zweihundert Meter zurückzulegen, die ihn von der Gestrandeten trennten. Dabei schoss ihm durch den Kopf, dass ein so langsamer Sprint wohl noch nie gestoppt worden war.
»Kommen Sie«, keuchte er beim Versuch, sie zur Eile anzutreiben.
»Nein«, kreischte Mrs Kassel, während ihre Arme weiter den Baumstamm umschlangen. »Ich kann nicht, ich kann nicht.«
»Sie müssen aber«, erwiderte Neville und hielt sich wegen des Windes, der an ihm zerrte, an einem dicken Ast fest. »Sie dürfen nicht hier bleiben. Es ist zu gefährlich.«
»Loslaufen wäre noch gefährlicher«, schluchzte sie; das nasse Haar klebte ihr im Gesicht.
»Das stimmt nicht«, widersprach er ärgerlich.
Dann jedoch nahm der Baum ihnen die Entscheidung ab: Er knirschte bedrohlich. Zwar stand er noch, aber wie lange noch? Neville spürte den Druck, als ob der wilde Wind sich den Baum als Opfer auserkoren hätte und ihn nicht mehr freigeben würde. Wieder ächzte der Baum kläglich. Mrs. Kassel sah Neville an und blickte sich dann verzweifelt nach einem vielleicht näher gelegenen Halt um.
»So laufen Sie schon!«, rief er. Da rannte sie endlich los, und zwar auf die Küche zu. Durch ihren nassen langen Rock geriet sie immer wieder ins Stolpern, und sie musste sich gegen den Wind stemmen. Doch Neville folgte ihr auf den Fersen und stieß sie immer weiter, bis sie schließlich genug Schwung bekam, so dass sie den Rest des Weges allein zurücklegen konnte.
Mit einem erleichterten Aufseufzen richtete er sich auf und eilte weiter.
Neville sah sie kommen, die Wellblechplatte, die wie ein fliegender
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