Wind des Südens
raste in wilder Jagd an Esme vorbei, so dass sie erschrocken zurücksprang.
Nachdem sie im verwüsteten Salon, in der Bar, im Büro und schließlich im Speisesaal nachgesehen hatte, kam sie durch die Flügeltür zurück in die Küche.
»Haben Sie ihn gefunden?«, wollte Franz wissen. Als er am Küchenfenster vorbeiging, zuckte er zusammen. »Nanu? Was macht denn mein Mantel da draußen?«
Er marschierte hinaus, um ihn zu holen. Niemand achtete auf ihn, denn ein im Regen liegen gelassener Mantel war angesichts der Verheerung ein zweitranginges Problem.
»Neville ist nicht im Hotel«, sagte Esme zu Mrs. Kassel. »Warum hätte er noch mal rausgehen sollen? Wo könnte er stecken?«
Esme spürte einen kalten Lufthauch in der geräumigen Küche, wo sich alle um den langen, sauber geschrubbten Tisch mit dem marmornen Schneidebrett auf der Seite, wo sich der Herd befand und wo die Köchin arbeitete, versammelt hatten. Schweigen erfüllte den Raum, als wäre die Zeit stehen geblieben. Esme begriff nicht, warum es auf einmal totenstill wurde, als sie sich langsam von der Gruppe löste und hinaustrat, wo ihr Hitze entgegenschlug. Die zerbrochenen Stufen hinunter, ging sie zu der Stelle hinüber, wo Franz kniete, und zwar neben einem Mantel, der offenbar so wichtig für ihn war, dass Esme unbedingt wissen musste, was sich darunter verbarg. Sie musste es erfahren.
»Meine Liebe …«, begann Franz, ihr die traurige Wahrheit zu eröffnen. Aber Esme wollte es nicht hören.
»Nein, das ist nicht wahr!«, kreischte sie. »Er lebt!« Sie wirbelte herum und schrie das Hausmädchen an, das hinter ihr stand. »Er lebt! Holen Sie einen Arzt. Los! Sofort! Holen Sie einen Arzt!«
Ehe jemand das Hausmädchen aufhalten konnte, eilte die junge Frau los und rannte über den Hof und zum Tor hinaus, um in diesem Notfall bloß nichts falsch zu machen. Sie musste Mr. Caporn retten! Noch nie im Leben hatte sie so viel Verantwortung getragen. Wie gut, dass sie so eine gute Läuferin war. Ihr Dad hatte immer gesagt, sie könne rennen wie der Wind. Und dass der arme Mr. Caporn nun da auf dem Boden lag, in Mr. Kassels Ledermantel, der jetzt hinten am Rücken aufgerissen und voller Blut war, bot ihr eine ausgezeichnete Gelegenheit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Sie sprang über einen umgestürzten Baum, den schwarzen Rock gerafft wie ein leichtes Mädchen, und hastete weiter. Dabei dachte sie an Mr. Caporns blasses Gesicht, das sie nur zur Hälfte hatte sehen können. Er hatte eine Abschürfung auf Nase und Stirn, als wäre er in eine Prügelei geraten. Aber auf seinen Lippen stand ein leichtes Lächeln, was ihr Hoffnung gab. Mr. Caporn verließ sich darauf, dass sie Hilfe holte, bevor es zu spät war. Also stürmte sie, vorbei an einer umgestürzten Kutsche, die Auffahrt des Krankenhauses hinauf, sprang auf die Veranda, ohne auf das zerrissene Vordach am Haupteingang zu achten, und begann, nach Dr. Fanning zu rufen.
Da Mal wusste, dass das Hotel Alexandra einiges abbekommen hatte, ging er am Ufer entlang dorthin, um sich zu erkundigen, ob man Hilfe brauchte.
In der ganzen Stadt roch es modrig. Es war ein abgestandener muffiger Gestank, der einem den Atem raubte, als hätten die Winde und die umgestürzten Bäume uralte Höhlen freigelegt. Alles war schief – das hieß, die Dinge, die überhaupt noch standen.
»Ein widerwärtiger Wind«, murmelte Mal schmunzelnd und hob eine reife Mango auf, die mit Dutzenden anderer unter einem Baum lag.
Er schälte die saftige Frucht und biss hinein, ohne darauf zu achten, dass der Saft ihm auf das zerrissene Hemd tropfte. Bevor seine Reisen ihn in den Norden geführt hatten, hatte er noch nie eine Mango gegessen, und er mochte diese Frucht sehr. Er beschloss, einen Eimer aus dem Hotel zu holen und alle Mangos vom Boden aufzusammeln, bevor sie dort verfaulten. Doch als er gerade die Straße überqueren wollte, kam eine Rinderherde in wilder Jagd um die Ecke gestürmt, gefolgt von einem Reiter mit knallender Peitsche.
Mal sprang beiseite und erkannte dabei Esme Caporn vor dem Hotel. Aber als die rasende Rinderherde vorbei war, war Esme bereits wieder im Gebäude verschwunden.
Sie sieht traurig aus, dachte er. Aber dazu hat sie in einem verwüsteten Hotel ohne Dach ja
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