Wind des Südens
mit ihr führen und das deutlich machen«, sagte er sich. »Und mir auch über meine eigenen Gefühle klar werden«, fügte er in Gedanken hinzu, während er die Karten austeilte.
Am nächsten Tag stattete er St. Clement’s bereits am frühen Morgen einen Besuch ab. Nachdem er aus reinem Vergnügen über die weite Ebene galoppiert war, erreichte der die Anstalt in bester Laune. Allerdings hatte eine neue Oberschwester Dienst, die es mit den Vorschriften, was die Besuchszeiten betraf, sehr genau nahm. Sie schickte Mal fort und wies ihn an, um drei Uhr wiederzukommen.
Obwohl Mal das gar nicht passte, verabschiedete er sich höflich und ritt die Straße entlang, bis er das Ende des langen Zauns von St. Clement’s erreichte. Dann folgte er dem Zaun seitwärts von der Straße weg.
Sobald er sich vergewissert hatte, wo sich Constances Zimmer befand, band er das Pferd an einen Baum, legte Jacke und Krawatte ab und krempelte die Ärmel hoch, so dass er von den Handwerkern, die, wie er beobachtet hatte, auf dem Gelände arbeiteten, nicht mehr zu unterscheiden war. Zu guter Letzt zog er auch die Weste aus, damit man die Hosenträger sah, und war mit seiner Verwandlung zufrieden.
Kurz darauf hatte Mal den Zaun überwunden und schlenderte unauffällig zwischen den Gebäuden umher.
Als er die Tür von Constances Zimmer erreichte, hörte er, wie sie mit einer Krankenschwester stritt. Obwohl die Auseinandersetzung recht hitzig wurde, mischte er sich nicht ein, sondern ging eine Runde um das Gebäude, bis er sah, wie die Schwester die Tür hinter sich zuknallte und über die Veranda davonmarschierte.
»Was war das denn gerade?«, fragte er, nachdem er angeklopft und den Kopf zur Tür hineingestreckt hatte.
»Ach, Mal!«, rief sie aus. »Ich bin ja so froh, Sie zu sehen. Sie haben Oberschwester Bassani gekündigt, und die neue Oberschwester hat mir sämtliche Vergünstigungen entzogen. Sie sagt, ich dürfte aufgrund meiner gesellschaftlichen Stellung keine Sonderbehandlung erwarten. Aber das kann ich sehr wohl! Schließlich bezahle ich mehr! Jetzt bekomme ich die Mahlzeiten nicht mehr in meinem Zimmer serviert und muss an den albernen Leibesübungen teilnehmen. Sogar meine Bücher haben sie mir weggenommen! Ich bin nicht bereit, das zu dulden!«
»Und das brauchen Sie auch nicht«, erwiderte Mal. »Eindeutig nicht. Wenn Sie von jetzt an so behandelt werden sollen, ist es Zeit, dass Sie von hier verschwinden. Noch nie habe ich Sie so aufgebracht erlebt.«
»Ich weiß. Und ich sehe zum Fürchten aus. Ich habe mich noch nicht einmal frisiert. Es ist noch früh am Morgen, richtig?«
»Ja. Soll ich mich darum kümmern, dass Sie entlassen werden? Ich werde es versuchen.« Wie genau, wusste er allerdings noch nicht.
Aber Constance wich zurück. »Hier fortgehen? Nein, das könnte ich nicht. Nein.«
Er setzte sich zu ihr und hielt ihr den Spiegel, damit sie ihr Haar kämmen konnte. Dabei versuchte er sie zu überreden, die Anstalt zu verlassen, und nach einer Weile stand sie dem Gedanken ein wenig offener gegenüber.
»Ich kann nicht fort von hier, Mal. Ich wüsste ja nicht, wohin. Zu Lyle, der mich ständig nur beschimpft, kehre ich nicht zurück. Das kommt nicht in Frage.«
»Keine Sorge. Ich habe einen sehr guten Einfall. Warum fahren Sie nicht nach Hause zu Ihrem Vater?«
»Nach England. Das würde Lyle mir niemals erlauben.«
»Vielleicht ja doch. Soll ich mit ihm sprechen?«
»Das ist zwecklos. Ich muss wohl hier bleiben.«
»Nicht, wenn Sie nicht wollen.« Das Gespräch erinnerte ihn an das mit Emilie, die vor körperlicher Misshandlung hatte fliehen müssen. Allerdings spielten sich viele von Constances Problemen nur in ihrem Kopf ab, und er bezweifelte, dass es ihr in England auf lange Sicht besser gehen würde. Wieder fragte er sich, was Tussup für sie würde tun können. Doch im Augenblick war es das Wichtigste, sie aus dieser Irrenanstalt herauszuholen.
Schließlich erklärte sie sich bereit, die Anstalt zu verlassen, falls die Oberschwester sich weigern sollte, auf ihre Bedingungen einzugehen. Auf dem Heimweg beschloss Mal, dass es wohl das Beste war, sofort ein Wörtchen mit Lyle zu reden.
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