Wind des Südens
helle Freude. Er hatte seine Bücher und Zeitungen und sein misstönendes Klavier – das nach seinen eigenen Worten so verstimmt war, dass es dem Würgervogel Zahnschmerzen bereitete – und eine temperamentvolle chinesische Haushälterin namens Lulu.
An diesem Sonntagmorgen weckte sie ihn in aller Frühe, indem sie mit einem Topf gegen seine Tür schlug, und berichtete, dass im Hafen etwas los sei. Nach einer langen Nacht in Dooley’s Pub hielt er nicht viel davon, auf diese Weise geweckt zu werden, doch schon wenige Minuten später machte seine Neugier sämtlich Einschlafversuche zunichte.
»Was ist denn los?«, rief er.
»Ein Schiff ist gesunken. Die China Belle .«
»Was?« Blitzartig war Jesse aus dem Bett, sprang unter die selbst gebaute Dusche und stand Sekunden später auf der seitlichen Veranda. Die China Belle? Nein! Sie konnte doch nicht gesunken sein. Sie war das schneidigste kleine Schiff, das er je gesehen hatte, der Stolz der Oriental Line oder vielmehr ihrer wohlhabenden Direktoren und ihresgleichen, die einzigen, die bereit waren, die überteuerten Fahrpreise für das Privileg einer Reise auf diesem Schiff zu bezahlen.
Jesse zog weiße Segeltuchhosen an, dazu ein schwarzes Hemd und Segeltuchschuhe und stülpte sich den verbeulten Panamahut aufs noch nasse Haar, vergaß aber nicht, ein frisches Notizheft und zwei gute Bleistifte einzustecken, bevor er die Stufen vor dem Haus hinuntereilte.
»Die China Belle! « Er pfiff durch die Zähne. Allein schon die Passagierliste wäre Gold wert für seinen Artikel. Da gäbe es Hunderte von Geschichten. Er war gespannt, wer die Passagiere waren und ob sie überlebt hatten.
Am Hafen waren bereits die Menschen zusammengelaufen. Er drängte sich durch die Menge und schnappte dabei erste Informationen auf.
»Die Überlebenden sind da drüben auf der Clarissa .«
»Jemand hat gesagt, es hätte eine Meuterei gegeben. Einen Kampf an Bord.«
»Ist Kobeloff noch Kapitän der Clarissa? «
Jesse hoffte es. Er war mit Kobeloff befreundet. Den Rest des Wegs legte er im Laufschritt zurück, rannte die Gangway hinauf und wurde von Dan Connor aufgehalten, dem örtlichen Polizeisergeanten, der einen Gefangenen an Land führte … niemand anderen als Tom Ingleby, den Zweiten Offizier der China Belle .
»Was ist hier los?«, fragte Jesse verblüfft.
Dan stieß Ingleby vor sich her. »Eine scheußliche Geschichte, Jesse, und dieser Verräter hier gehört zu den Anführern.«
»Eine Meuterei?«
»Ja, die ganze Mannschaft ist vom Schiff desertiert, sie haben die Passagiere im Stich gelassen und, was noch schlimmer ist, zwei Damen entführt. Oh, das ist eine scheußliche Sache. Da ist noch einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten, glaub mir.«
»Mit der Entführung habe ich nichts zu tun«, jammerte Ingleby, doch Connor zog ihm eins über den Schädel und stieß ihn die Gangway hinunter.
»Du kannst später mit ihm reden«, sagte er zu Jesse, der die Passagiere auf dem Weg an Land ansprach, um festzustellen, von welchem Schiff sie kamen, und bald stieß er auf einen Überlebenden von der China Belle , der sich bereit erklärte, mit ihm zurück in den Salon zu gehen und sich interviewen zu lassen.
Zu Jesses Erleichterung war dieser Mann Raymond Lewis, ein Parlamentarier und genau die richtige Person, ihm einen nüchternen und sachlichen Bericht über die Tragödie zu geben, die über das Schiff und die Schifffahrtsgesellschaft hereingebrochen war. Was Mr. Lewis auch bereitwillig tat.
Jesse überflog seine Aufzeichnungen. »Ich würde gern die Passagierliste überprüfen, Mr. Lewis. Ich kann es mir nicht leisten, in einer so schrecklichen Situation Fehlerhaftes zu veröffentlichen.« Er las die Namen laut vor, und Lewis nickte.
»Das ist richtig.«
»Die Frau, die entführt wurde und vermisst wird, ist Engländerin, Constance Horwood, die Gattin von Mr. Lyle Horwood?«
»Ja.«
»Und die Frau, die ertrunken ist, war Chinesin, Mrs. Jun Lien Willoughby.«
»Meines Wissens ja.«
»Und ihr Mann. Wer ist er?«
»Ein junger Bursche. Ich kenne seinen Vornamen nicht und weiß auch
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