Wind (German Edition)
sogar ein bescheidenes Leinentuch.
Es war immer noch doppelt zusammengelegt, mindestens jedenfalls. Tim faltete es ein weiteres Mal auseinander, und aus dem Handtuch wurde ein Tischtuch. Als er es nun vor sich hochhielt, heulte der Orkan zwar links und rechts an ihm vorbei, aber die Luft zwischen dem schlaff herabhängenden Tuch und seinem Gesicht war totenstill.
Und warm .
Tim packte das Tischtuch, das eine Serviette gewesen war, mit beiden Händen und schüttelte es, sodass es sich nochmals entfaltete. Nun war es eine Plane, die ohne zu flattern auf dem Erdboden lag, obwohl Staubwolken, Zweige und tote Vögel an ihr vorbei und über sie hinweg flogen. All die herumwirbelnde Gunna prasselte mit Hagelgedonnere auf den metallenen, halbrunden Dogan. Tim wollte schon unter die Plane kriechen, zögerte dann aber und sah in die leuchtend grünen Augen des Tygers. Er betrachtete auch noch seine kräftigen, weißen Reißzähne, die von den Lefzen nicht ganz verdeckt wurden, bevor er dann eine Ecke des Zaubertuchs hochhielt.
»Komm! Kriech mit drunter. Hier gibt’s keinen Wind und keine Kälte.«
Aber das wusstest du ja, Sai Tyger. Nicht wahr?
Der Tyger duckte sich, streckte seine furchterregenden Krallen aus und kroch bäuchlings unter die Plane. Als er es sich darunter bequem machte, spürte Tim, wie etwas drahtig Steifes seinen Arm streifte: Schnurrhaare. Dann lag der mit Fell bedeckte Leib ausgestreckt neben ihm.
Er war so riesig, dass sein halber Körper sich noch außerhalb der dünnen, weißen Decke befand. Tim richtete sich kniend auf, kämpfte gegen den Orkan an, der Kopf und Schultern im Freien erfasste, und schüttelte die Plane nochmals. Diesmal entfaltete sie sich, ohne im Geringsten zu flattern, zur Größe eines Küstenschiffsegels. Der Saum reichte jetzt fast bis zu dem Tygerkäfig.
Der Sturm tobte, und die ganze Welt war in Aufruhr, aber unter dem Tuch war es still. Das heißt, bis auf Tims jagendes Herz. Als es sich etwas beruhigt hatte, spürte er ein zweites langsam schlagendes Herz an seinem Brustkorb. Und er hörte ein tiefes, raues Grollen. Der Tyger schnurrte.
»Hier sind wir in Sicherheit, stimmt’s?«, sagte Tim zu ihm.
Der Tyger sah ihn kurz an, dann schloss er die Augen. Für Tim war das Antwort genug.
Die Nacht kam, und der Stoßwind brach mit voller Gewalt herein. Jenseits der starken Magie, die anfangs nur wie eine bescheidene Serviette ausgesehen hatte, nahm auch die Kälte zu – von einem Orkan verschlimmert, der bald über hundert Räder in der Stunde erreichte. Die Fenster des Dogans setzten eine zolldicke Eisschicht an. Die Eisenholzbäume implodierten erst, dann stürzten sie um und flogen in einem tödlichen Hagel aus Splittern, Ästen und ganzen Stämmen südwärts davon. Neben Tim schnarchte sein Bettgenosse, ohne irgendetwas davon wahrzunehmen. Im Tiefschlaf breitete sein Körper sich entspannt aus und drängte Tim immer mehr an den Rand ihrer Schutzdecke. Einmal stieß er den Tyger sogar mit dem Ellbogen an, wie man es bei einem Bettgenossen machen würde, der alle Decken an sich zu raffen versuchte. Der Tyger knurrte unwillig und ließ seine Krallen sehen, aber er machte ein bisschen Platz.
»Danke-sai«, flüsterte Tim.
Eine Stunde nach Sonnenuntergang – vielleicht auch zwei, das konnte Tim schlecht abschätzen – war draußen ein schauriges Kreischen zu hören, das den Sturm übertönte. Der Tyger öffnete die Augen. Tim hob die Decke etwas hoch und spähte vorsichtig hinaus. Der Gittermast über dem Dogan hatte nachgegeben. Während Tim fasziniert zusah, wurde seine leichte Neigung stärker. Auf einmal flog der Turm fast schneller auseinander, als man das wahrnehmen konnte. Eben war er noch da; im nächsten Augenblick war er eine Wolke aus Stahlträgern, die der Wind in die breite Schneise warf, wo noch vor wenigen Stunden ein Eisenholzwald gestanden hatte.
Als Nächstes stürzt der Dogan ein, dachte Tim, aber das geschah nicht.
Der Dogan blieb unverrückt stehen wie schon seit tausend Jahren.
Es war eine unvergessliche Nacht, die aber so außergewöhnlich seltsam war, dass er sie nie beschreiben konnte … oder sich auch nur so nüchtern an sie erinnern konnte, wie wir uns an gewöhnliche Ereignisse in unserem Leben erinnerten. Ganz verstand er sie nur in seinen Träumen, und er träumte zeit seines Lebens von dem Stoßwind. Zum Glück waren das keine Albträume. Es waren gute Träume, in denen er das Gefühl hatte, sicher geborgen zu sein.
Unter der
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