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Wind (German Edition)

Wind (German Edition)

Titel: Wind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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großen Decke war es warm, und die schlafende Masse seines Bettgenossen sorgte für noch mehr Wärme. Einmal schlug er die Decke so weit zurück, dass er draußen die Myriaden von Sternen am Himmel glänzen sehen konnte – viel mehr an der Zahl, als er jemals welche gesehen hatte. Es war, als hätte der Sturm winzige Löcher in die Welt über der Welt geblasen und sie in ein Sieb verwandelt, durch das nun das glitzernde Mysterium der Schöpfung hereinleuchtete. Solche Dinge mochten nicht für menschliche Augen bestimmt sein, aber Tim fühlte sich durch besondere Fügung dazu berechtigt, weil er unter einer Zauberdecke neben einem Geschöpf lag, das selbst die gutgläubigsten Einwohner von Tree als Sagengestalt abgetan hätten.
    Er empfand Ehrfurcht, als er zu den Sternen aufsah, aber zugleich auch tiefe, dauerhafte Zufriedenheit, wie er sie als Kind empfunden hatte, wenn er nachts aufgewacht war, im Halbschlaf sicher und warm unter seiner Federdecke gelegen und dem Wind gelauscht hatte, der sein einsames Lied von anderen Orten und anderen Leben sang.
    Die Zeit ist ein Schlüsselloch, dachte er, als er zu den Sternen aufsah. Ja, das glaube ich. Manchmal bücken wir uns, um hindurchzusehen. Und der Wind, den wir dabei im Gesicht spüren – der Wind, der durchs Schlüsselloch bläst –, ist der Atem des gesamten lebenden Universums.
    Der Sturm tobte durch den wolkenlosen Himmel, und die Kälte wurde strenger, aber Tim Ross lag sicher und warm unter der Decke und hatte einen schlafenden Tyger neben sich. Irgendwann schlief auch er ein und versank in einen tiefen Schlaf, der erholsam war und nicht durch Träume gestört wurde. Als er wegdriftete, hatte er das Gefühl, ganz winzig zu sein und von dem Wind, der durchs Schlüsselloch der Zeit blies, davongetragen zu werden. Weg vom Rand des Großen Canyons, über den Endlosen Wald und den Fagonard hinweg, über den Eisenholzpfad hinweg, an Tree vorbei – nur eine tapfere kleine Ansammlung von Lichtern aus der Höhe, in der er mit dem Wind darüber hinwegflog – und weiter, weiter, oh, noch viel weiter, nach Gilead und darüber hinaus, über ganz Mittwelt hinweg bis zu dem Ort, an dem ein unvorstellbar hoher, ebenholzschwarzer Turm in den Himmel aufragte.
    Da werde ich hingehen! Eines Tages tu ich das!
    Mit diesem Gedanken schlief er ein.

Am Morgen war das Heulen des Sturms zu einem gleichmäßigen Rauschen herabgesunken. Tims Blase war voll. Er schob die Decke weg, kroch auf den Felsboden hinaus, von dem der Stoßwind allen Humus abgetragen hatte, und hastete auf die andere Seite des Dogans. Sein Atem erzeugte weiße Dampfwolken, die der Wind sofort mitriss. Hinter dem Dogan war er im Windschatten, aber es war kalt, sehr kalt. Sein Urin dampfte, und als er fertig war, begann die Pfütze auf dem Boden schon zu gefrieren.
    Tim lief eilig zurück. Er musste bei jedem Schritt gegen den Wind ankämpfen und zitterte am ganzen Leib. Als er wieder in die herrliche Wärme unter der Zauberdecke kroch, klapperten ihm die Zähne. Er schlang die Arme um den muskulösen Körper des Tygers, ohne recht darüber nachzudenken, und erschrak nur kurz, weil sich Augen und Schnauze des Tiers öffneten. Eine Zunge, die lang wie ein Teppichläufer und rosa wie eine Neue-Erde-Rose war, kam zum Vorschein. Sie leckte ihm über die Wange, und Tim zitterte wieder – nicht vor Angst, sondern wegen der Erinnerung daran, wie sein Vater seine Wange an Tims gerieben hatte, bevor er morgens die Waschschüssel gefüllt und sich rasiert hatte. Er werde sich nie einen Bart wie sein Partner wachsen lassen, hatte er gesagt, der stehe ihm nicht.
    Der Tyger senkte den Kopf und schnüffelte am Hemdkragen des Jungen. Tim lachte, weil die Schnurrhaare ihn am Hals kitzelten. Dann fiel ihm ein, dass er ja noch zwei Popkins hatte. »Ich will sie mit dir teilen«, sagte er. »Obwohl wir ja beide wissen, dass du beide haben könntest, wenn du wolltest.«
    Tim gab also einen der Popkins dem Tyger. Er verschwand sofort in dessen Rachen, aber das Tier sah anschließend nur ruhig zu, wie Tim sich über den anderen hermachte. Für den Fall, dass Sai Tyger sich die Sache anders überlegte, aß er, so schnell er konnte. Dann zog er die Decke über den Kopf und schlief wieder ein.

Als er zum zweiten Mal erwachte, war es schätzungsweise Mittag. Der Wind hatte sich noch etwas weiter abgeschwächt, und als Tim den Kopf ins Freie steckte, war die Luft schon ein wenig wärmer. Trotzdem würde der unnatürliche Sommer, dem die

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