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Wind (German Edition)

Wind (German Edition)

Titel: Wind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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flammte aber immer wieder auf – hell genug, dass es Schatten warf, die sich wie Schlangen um seine Füße zu winden schienen.
    Der Pfad – jetzt schlechter zu erkennen, weil die Fahrspuren von Big Ross und Big Kells die einzigen waren – bog links aus, um einen Eisenholzbaum zu umgehen, dessen mächtiger Stamm größer als das größte Haus in Tree war. Etwa hundert Schritte nach dieser Kurve endete der Pfad auf einer Lichtung. Dort standen die Pfosten mit dem Querbalken, an dem das Schild hing. Tim konnte jedes Wort mühelos lesen, denn über der Tafel – von Flügeln getragen, die so schnell schwirrten, dass sie praktisch unsichtbar waren – schwebte die Sighe.
    Er trat näher heran. Bei diesem exotischen Anblick hatte er alles andere vergessen. Die kaum handgroße Sighe war nackt und wunderschön. Ob ihr Körper so grün wie das Licht war, das er abstrahlte, war schwer zu beurteilen, weil ihre Helligkeit blendete. Trotzdem konnte er das Lächeln sehen, mit dem sie ihn empfing, und wusste, dass auch sie ihn sehr gut sah, obwohl ihre glänzenden mandelförmigen Augen keine Pupillen hatten. Ihre nicht sehr lauten Flügelschläge machten ein gleichmäßig surrendes Geräusch.
    Vom Zöllner war nichts zu sehen.
    Die Sighe beschrieb spielerisch einen Kreis, dann tauchte sie in einen Busch ein. Tim war unwillkürlich besorgt, weil er sich vorstellte, ihre feinen Libellenflügel würden von Dornen zerfetzt, aber da kam sie auch schon wieder unverletzt daraus hervor und schraubte sich in einer schwindelerregenden Spirale zehn Manneslängen oder noch mehr in die Höhe – bis zu den untersten Ästen der Eisenholzbäume –, bevor sie dann im Sturzflug auf ihn herabschoss. Tim sah noch, wie sie ihre eleganten Arme nach hinten ausstreckte, sodass sie wie ein Mädchen aussah, das in einen Badesee sprang. Er duckte sich, und als sie so dicht über seinen Kopf hinwegflog, dass sie sein Haar streifte, hörte er ihr leises Lachen. Es klang wie Schellengeläut, das an einem nebligen Morgen aus großer Ferne kam.
    Er richtete sich vorsichtig auf und sah, wie sie jetzt in der Luft eine Rolle nach der anderen drehte und zurückkam. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen. Er glaubte, noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben.
    Als sie über den Querbalken flog, sah er in ihrem hellen Glühwürmchenlicht einen undeutlich erkennbaren, weitgehend überwachsenen Pfad, der in den Endlosen Wald hineinführte. Sie hob einen Arm. Mit von grünem Feuer glühender Hand gab sie Tim ein Zeichen, ihr zu folgen. Von dieser überirdischen Schönheit und dem einladenden Lächeln wie verzaubert, zögerte Tim nicht lange, unter dem Querbalken hindurchzuschlüpfen, ohne die letzten drei Wörter des von seinem nun toten Vater aufgehängten Warnschilds auch nur anzusehen: REISENDER, GIB ACHT!

Die Sighe blieb auf der Stelle schweben, bis Tim fast so nahe heran war, sie berühren zu können. Dann schwirrte sie den nur schwach erkennbaren Pfad entlang weiter. In einiger Entfernung schwebte sie wieder auf der Stelle, lächelte und winkte ihn zu sich heran. Ihr Haar fiel ihr bis über die Schultern, verdeckte manchmal ihre kleinen Brüste, flog dann wieder im Sog ihrer Flügelschläge hoch und enthüllte sie.
    Als Tim sich ihr zum zweiten Mal näherte, rief er – aber nur leise, weil er fürchtete, lautes Schreien könnte ihre winzigen Trommelfelle platzen lassen. »Wo ist der Zöllner?«
    Ein weiteres silberhelles Lachen war ihre einzige Antwort. Sie flog mit bis fast zu den Schultern hochgezogenen Knien zwei Rollen, dann schwirrte sie weiter und sah sich nur noch gelegentlich um, so als wollte sie sich vergewissern, dass Tim ihr folgte, bevor sie weiterflog. Auf diese Weise führte sie den von ihr faszinierten Jungen immer tiefer in den Endlosen Wald hinein. Tim merkte nicht, dass der eh kaum sichtbare Pfad ganz verschwand und sein Weg ihn unter riesig hohen Eisenholzbäumen weiterführte, die bisher nur wenige Menschen erblickt hatten – und auch das nur vor vielen Jahren. Er merkte auch nicht, dass der schwere, süß-saure Geruch des Eisenholzes durch den weit weniger angenehmen Modergeruch von stehendem Wasser und verrottendem Laub ersetzt wurde. Die Eisenholzbäume waren zurückgeblieben. Irgendwo vor ihm würde es noch weitere geben, über ungezählte Meilen hinweg, aber nicht hier. Tim hatte den Rand des als Fagonard bekannten großen Sumpfes erreicht.
    Die Sighe ließ erneut ihr verlockendes Lächeln aufblitzen, dann schwirrte sie weiter.

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