Wind über den Schären: Liebesgeschichten aus Schweden (German Edition)
wegschicken, sonst zerstört sie meine Familie.«
Valerie hörte sofort, dass es Olof Wilander war, der da so eindringlich auf Ludvig Stekkelson einredete.
Sie beugte sich vorsichtig vor, um einen Blick in Ludvigs Büro werfen zu können. Ludvig saß hinter seinem Schreibtisch, Olof Wilander davor. Schnell zog sie den Kopf zurück, um nicht gesehen zu werden.
»Mit welcher Begründung soll ich sie wegschicken?«, hörte sie Ludvig Stekkelson antworten. »Sie ist tüchtig, sie macht ihre Arbeit gut.«
»In der Probezeit brauchst du keine Begründung«, erwiderte Olof scharf.
Valerie ahnte, worum es ging. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Olof Wilander war ihr Vermieter. Was fiel ihm ein, über ihr Arbeitsverhältnis und damit über ihr Leben entscheiden zu wollen! Ihre Gedanken rasten, und gerade als sie entschieden hatte, aus ihrem Versteck hervorzutreten und sich in das Gespräch einzumischen, begann Ludvig Stekkelson zu sprechen. Die Stimme des Anwalts klang nach wie vor ruhig und beherrscht, doch jetzt schwang ein vorwurfsvoller Unterton mit.
»Wieso kannst du nicht mit ihr reden? Ihr seid beide erwachsene Menschen, und sie hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer du bist.«
»Sie hat eine Affäre mit meinem Schwiegersohn.« Olofs Stimme überschlug sich fast.
Valeries Wut wandelte sich schlagartig in Entsetzen und Scham. Wie hatte Olof so schnell von ihr und Markus erfahren? Er sollte es doch gar nicht wissen, nicht bevor Markus und Leonie …
»Ich bin schuld«, hörte sie Olof in diesem Moment sagen. »Weil ich auf meine sentimentalen Vatergefühle hereingefallen bin. Ich hätte alles lassen sollen, wie es war. Valerie ist ohne ihren Vater aufgewachsen und hat ihn nie vermisst. Ich habe es zwar manchmal bedauert, dass ich zu dieser Tochter keinen Kontakt haben konnte, aber es war besser so. Ich habe immer alles getan, damit es meiner Familie gut geht, aber jetzt droht sie auseinanderzubrechen.«
Valerie war wie betäubt. Sie lehnte sich gegen die Wand, unfähig sich zu bewegen.
»Es konnte ja keiner ahnen, dass sie sich ausgerechnet in deinen Schwiegersohn verliebt«, hörte sie Ludvig antworten.
Olof Wilander ist mein Vater. Der Gedanke kreiste unablässig in Valeries Kopf. Er hat es die ganze Zeit gewusst! Und Ludvig Stekkelson hat es gewusst, nur ich, ich hatte keine Ahnung.
Valerie hatte das Gefühl zu ersticken. Sie musste raus, musste an die frische Luft.
So beherrscht und leise wie möglich schlich sie aus der Kanzlei. Draußen sog sie die frische Luft ein, wandte sich wie in Trance nach links und ging los. Ging immer weiter, einfach weiter, bis sie irgendwann am Wasser war. Sie starrte über die Wellen, ihre Gedanken kreisten unablässig um diesen einen Satz: Olof Wilander ist mein Vater!
Es stimmt nicht, was er eben gesagt hat, dachte sie bitter. Ich habe meinen Vater sehr wohl vermisst. Bei jeder Schulaufführung, wenn die Eltern meiner Mitschüler anwesend waren. Bei jedem Geburtstag, bei jedem Weihnachtsfest. Olof hat keine Ahnung, wie sehr eine Tochter einen Vater vermissen kann, den sie nicht kennt und von dem sie nichts weiß.
Valerie ließ ihren Tränen freien Lauf. Solange sie denken konnte, hatte sie ihren Vater vermisst, dennoch war sie ihr Leben lang alleine klargekommen. Zunächst ohne ihren Vater, dann ohne ihren Mann. Und jetzt tauchte plötzlich nicht nur ein neuer Mann an ihrer Seite auf, sondern aus dem Nichts auch noch ihr Vater! Am selben Ort, noch dazu in derselben Familie. Nie im Leben hätte sie mit einer solchen Situation gerechnet. Es war so unfassbar. Wenn er von ihr gewusst hatte, warum hatte er sich bis jetzt nicht zu erkennen gegeben? Wie lange wusste er schon von ihr?
Eigentlich lag die Antwort klar auf der Hand, und sie war nicht weniger schmerzhaft als die Erkenntnis, dass es ihren Vater gab und er sich ganz bewusst nicht zu erkennen gegeben hatte: Er hatte Angst, alles zu verlieren. Auch wenn es ihr nicht leichtfiel, ein bisschen konnte sie ihn sogar verstehen.
Sie zuckte erschrocken zusammen, als ihr Handy klingelte. Gerade jetzt wollte sie mit niemandem reden, musste sich erst einmal über ihre Gefühle klar werden. Wollte überlegen, was sie jetzt tun konnte. Aber welche Möglichkeiten blieben ihr? Hierzubleiben war keine Option, sie würde es nicht ertragen, Olof jeden Tag über den Weg zu laufen. Den Kontakt mit ihm würde sie Lasse auf Dauer nicht verbieten können, ohne ihm die Situation zu erklären. Nein, es gab nur eine Lösung, das wurde ihr
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