Windbruch
Panik, sie könnte ihm
für immer entrissen werden, hatte er sich an sie geklammert, hatte sie
angefleht, ihn nicht zu verlassen. Aber so sehr er auch zog und zerrte, Tomke
war ihm entwichen und mit einem eisigen Lufthauch in den Himmel emporgestiegen.
Er hatte versucht zu schreien, doch aus seinem Mund war kein einziges Wort
gedrungen. Stattdessen hatte Tomke mit glockenheller Stimme einen gespenstigen
Singsang angestimmt, der von allen Seiten widerzuhallen schien und immer die
gleichen Verse wiederholte:
wenn ein kleines kind
verschwindet,
ist’s viel arbeit, bis man`s
findet,
doch abschied wird für immer
sein,
wenn du
nicht endlich kehrest heim.
Und wie aus heiterem Himmel hatte
plötzlich der kleine Nicolas neben ihm gestanden, lachend zu ihm aufgeschaut
und mit einer Stimme, die der seines Vaters Hauke sehr ähnlich war, gesagt: „In
den Geschichten reimt sich alles, obwohl sie sagt, sie hat sich das gerade erst
ausgedacht.“
Maarten lag mit schreckensweiten
Augen und klatschnass geschwitzt im Bett. Für einen kurzen Moment wusste er
nicht, wo er war. Dann aber fiel sein Blick auf die mächtige Skyline
Manhattens. Er war wieder nach Hause geflogen, fiel ihm ein. Nachdem er diesen
anonymen Brief mit dem Gedicht bekommen hatte, war er wieder nach Hause geflogen.
Und lag jetzt im Bett, in seinem New Yorker Penthouse. Seine Schwester Wiebke
hatte angerufen. Sie hatte gesagt, dass es Tilman gut gehe. Tilman. Man hatte
ihn entführt, aus seinem Emder Büro heraus. Er hatte am Tisch gesessen, mit
seinem Bruder Nicolas und Inka und ...
„Inka!“, rief Maarten und schlug
sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Dass er nicht gleich darauf gekommen
war! Inka malt Bilder und erzählt dazu Geschichten, die sich reimen. Sie hatte
einen Faible für Reime! Aber ... konnte das sein? Könnte es tatsächlich Inka,
seine immer so freundliche Kollegin Inka Henzler gewesen sein, die ihm diese
abscheulichen Gedichte geschrieben hatte? Was hätte sie für einen Grund dazu?
Sie hatte doch mit all den kriminellen Geschichten, die bei der N.S.OffshorePower
Ltd. gelaufen waren, nichts zu tun. Oder vielleicht doch? Um Inka hatte
sich bisher kaum einer gekümmert. War sie eigentlich jemals von der Polizei
befragt worden?
Maarten warf einen Blick auf die
Uhr. In New York war es jetzt kurz vor halb sechs am Abend. Dann musste es in Emden
jetzt ungefähr halb zwölf in der Nacht sein. Mist! Hauptkommissar Büttner hatte
mit Sicherheit schon längst Feierabend und lag friedlich schnarchend im Bett.
Seine einzige Chance war vermutlich Franziska. Sie ging eigentlich nie vor
Mitternacht schlafen, soviel er wusste. Obwohl ja auch sie mehrere schlaflose
Nächte hinter sich hatte und nach all der Aufregung vielleicht endlich wieder
zur Ruhe gekommen war. Nun ja, da half alles nichts. Er würde es einfach
versuchen. Wenn sie nicht ans Telefon ging, müsste er eben bis zum nächsten
Morgen warten.
Er griff zum Telefon und wählte
mit zitternden Fingern Franziskas Nummer. Nach mehrmaligem Klingeln meldete
sich eine verschlafene Frauenstimme mit einem knappen Ja .
„Franziska, gut, dass du da
bist!“, rief Maarten in den Hörer. „Hör mal, ich muss was Dringendes ... bitte?
Ach, Sie sind nicht Franziska? Mit wem spreche ich denn bitte? Imke? Ach, entschuldigen
Sie bitte, dann ...“
„Wer ist denn da?“, meldete sich
plötzlich eine andere, ebenfalls verschlafene Frauenstimme zu Wort.
„Franziska? Ich bin`s, Maarten.
Ich ...“
„Maarten! Hast du sie noch alle?
Weißt du wie spät es ist? Ich ...“
„Ja, ich weiß“, fuhr Maarten
dazwischen, „aber es ist wirklich dringend.“
„Hm. Na gut. Warte. Ich geh kurz
in die Küche, dann kann wenigstens Imke weiterschlafen.“
Maarten hörte ein Rascheln, das
Quietschen einer schon lange nicht mehr geölten Tür und schließlich das raue
Schaben eines Stuhls auf den Küchenfliesen. „So, Maarten“, hauchte Franziska
mehr schlafend als wach in den Hörer, „und wenn du mir jetzt nicht mindestens
erzählst, dass grüne Männchen auf der Erde gelandet sind, um uns endlich aus
diesem Elend hier zu befreien, dann sind wir ab dieser Nacht geschiedene
Leute.“
„Glaub mir, Franziska, ich würde
dich nicht anrufen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.“
„Hm.“
„Also, ich bin da auf was
gekommen, das mir keine Ruhe lässt. Es geht um Tilmans Entführung. Ich glaube,
nein, ich habe eine vage Ahnung, wer damit was zu tun haben könnte.“
„Schieß los“, sagte
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