Windbruch
beobachtet.“
„Einen Mord?“, stieß Maarten
entsetzt hervor und wurde bleich. „Was für einen Mord?“
„Ich weiß es ja auch nicht genau.
Aber sie hat ganz panisch in den Hörer geschrieen. Und im Hintergrund war es so
laut, dass ich sie kaum verstehen konnte. Es gab einen fürchterlichen Knall und
dann hat irgendwas ganz schrecklich laut geknirscht und ...“ Esther schlug sich
die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.
Maarten stand auf und legte ihr
eine Hand auf die Schulter. „Was hat sie noch gesagt? Zu dem Mord, meine ich“,
fragte er ruhiger, als er sich fühlte.
„Sie sagt, sie habe gesehen, wie
ein Mann jemanden zu Boden gerissen und womöglich ermordet hat.“
„Wer? Wer hat wen ermordet,
Esther?“
„Ich weiß es doch nicht!“,
schluchzte sie. „Ich habe nachgefragt, aber da war plötzlich die Verbindung
weg. Ich habe noch öfter versucht, sie anzurufen. Aber da kam nichts mehr. Und
nun ...“
Maarten ging in sein Vorzimmer
und bat Franziska, sich ein wenig um Esther zu kümmern, so von Frau zu Frau. In
kurzen Worten wiederholte er ihr, was das Mädchen gesagt hatte. „Und wenn sie
sich ein wenig beruhigt hat“, sagte er, „dann gebe ich ihr ein
Exklusivinterview, wenn sie möchte. Das wird ihr wenigstens einen fetten
Pluspunkt bei ihrer Zeitung einbringen, wenn sie schon sonst nichts zu lachen
hat.“ Nachdenklich ließ er sich auf Franziskas Stuhl fallen, als diese im Büro
verschwunden war. Das waren ja hochinteressante Entwicklungen. Aber konnte das,
was Esther ihm erzählt hatte, wirklich stimmen? Und wenn ja, wo war dann das
Mordopfer? Gehörte es zu den zwölf Toten, die geborgen worden waren? Aber wieso
hatte dann noch keiner etwas von dem Mord bemerkt? Oder war er vielleicht gar
nicht mehr nachweisbar, nach dem Unglück? Standen Unglück und Mord vielleicht sogar
in einem unmittelbaren Zusammenhang?
Maarten legte seinen Kopf in die
Hände und raufte sich die Haare. Er fürchtete, dass angesichts der Sachlage nie
jemand erfahren würde, was da draußen auf der Plattform tatsächlich geschehen
war. Aber das, was er wusste, würde er jetzt detailliert mit Esther besprechen.
Denn eines war ganz sicher: Naumann und auch seinen Kollegen Rhein würden aus
der Sache nicht heil herauskommen. Dafür würde er schon sorgen.
38
Wie hatte er nur jemals annehmen
können, das Leben in Ostfriesland sei langweilig? In den paar Monaten, die er
nun wieder hier war, war auf jeden Fall mehr Aufregendes passiert, als in den
letzten zehn Jahren auf all seinen Reisen rund um die Welt. Hatte Franziska ihm
nicht gesagt, er solle ruhig mal für längere Zeit in die ostfriesische Heimat
fahren, da könne er sich mal so richtig in Ruhe erholen?
Eingehüllt in dichten Nebel saß
Maarten in der Hocke am Ufer des Großen Meeres und ließ Steine über das Wasser
hüpfen. Er war aus der Übung, musste er feststellen. Als Kind hatten seine
Steine bis zu zehn Hüpfer hintereinander geschafft, bis sie von dem flachen
Binnensee geschluckt worden waren. Heute waren es maximal vier gewesen. Er
erinnerte sich, wie sie als Kinder mit ihrer Schulklasse über die zugefrorenen
Kanäle bis hin zu Kleinem und Großem Meer Schlittschuh gelaufen waren. Am
Kleinen Meer waren sie dann zur Belohnung in einer kleinen Holzbaracke direkt
am Ufer eingekehrt und hatten einen Becher heißen Kakao getrunken und sich
dabei die steif gefrorenen Finger und Zehen aufgewärmt. Wie hatten diese
geschmerzt, wenn das Blut wieder in sie einströmte!
Überhaupt waren sie als Kinder
oft Schlittschuh gelaufen, kilometerweit, über knarrendes Eis, die Kanäle und
Tiefs auf und ab. Unter den Brücken hieß es dann, die Beine in die Hand zu
nehmen und in rasendem Tempo unter sie hindurch zu schlittern. Denn unter ihnen
war das Eis oft noch recht dünn, und wenn man hier trödelte, konnte es schnell
passieren, dass man unfreiwillig Bekanntschaft mit dem eisig kalten Wasser
darunter machte. Und das wollte nun wirklich keiner riskieren.
Es fing an zu dämmern und Maarten
beschloss, sich lieber wieder auf den Weg zu machen. Der Nebel war so dicht,
dass er es vermeiden wollte, auch noch in die Dunkelheit hinein zu kommen.
Gemächlich schlenderte er zum Parkplatz zurück und dachte an Tomke. Nachdem
Esther wieder gegangen war, hatte er mit ihrer Mutter telefoniert, und sie
hatte ihm mitgeteilt, dass die Ärzte recht zuversichtlich seien, dass es Tomke
bald besser ginge. Ihr Kreislauf habe sich deutlich stabilisiert und mit sehr
viel
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