Windbruch
Und sollte sie nie wieder
erwachen, ihm niemals wieder ihr unvergleichliches Lachen schenken, dann würde
es unweigerlich zerbrechen. So wie das Herz des alten Fischers, der nicht
verstehen konnte, warum der liebe Gott, an dessen Gnade er bis zu diesem Moment
so fest geglaubt hatte, nicht ihn, sondern seine geliebten Söhne zu sich gerufen
hatte.
Maarten hob die Hand und strich
Tomke mit tränenverschleierten Augen über die blasse Wange. „Hast du ihr gesagt,
dass du sie liebst?“, hörte er da plötzlich eine ruhige Stimme neben sich
sagen. Überrascht sah er auf, er hatte gar nicht mitbekommen, dass jemand das
Zimmer betreten hatte. Frau Coordes, Tomkes Mutter, stand neben ihm, an ihrer
Seite einen von Tomkes Brüdern, Keno, soweit er sich erinnerte, der ihn
freundlich anlächelte.
„N-nein ... ich ...“, stammelte
er und fuhr sich verlegen mit der Hand übers Gesicht, in das eine tiefe Röte
gestiegen war. Frau Coordes nickte stumm. „Ich habe es ihr auch schon viel zu
lange nicht mehr gesagt. Weißt du, man nimmt so vieles als selbstverständlich
hin, auch, dass die eigenen Kinder immer um einen sind und dass es ihnen gut
geht.“ Sie machte eine fahrige Bewegung mit der Hand in Tomkes Richtung. „Und
plötzlich steht man da und es ist alles ganz anders. Man weiß nicht, ob man
jemals wieder die Gelegenheit haben wird, seinem Kind ...“ Sie verstummte und
fing an zu schluchzen. Keno legte ihr den Arm und die Schulter und drückte sie
stumm.
Maarten stand auf, hob kurz das
Buch an, dass er in den Händen hielt und sagte: „Ich geh dann mal. Ich schaue
heute Abend noch mal rein und lese ihr weiter vor.“
„Fünf Freunde“, sagte Keno, und
ein kaum erkennbares Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. „Tomkes Lieblingsbuch
aus Kindertagen. Erstaunlich, dass du dich daran noch erinnerst.“ Er klopfte
Maarten den Rücken. „Falls es dich interessiert: Tomke hat mir erst kürzlich
erzählt, dass sie all ihre Bücher von Enid Blyton behalten hat und ab und zu
sogar wieder in ihnen stöbert. Ich schätze, da hast du die absolut richtige
Wahl getroffen.“
Maarten hob die Schultern und
lächelte ihn an. Dann warf er einen letzten Blick auf Tomke und wandte sich zur
Tür. „Ich würde alles hergeben, was ich habe, wenn sie wieder ganz gesund
würde, das können Sie mir glauben, Frau Coordes“, sagte er, ohne sich noch
einmal umzudrehen.
37
Als Maarten wenig später bei der
Arbeit eintraf, erwartete ihn bereits eine große Journalistenmeute am
Eingangstor. Die meisten der Reporter sahen so zerzaust und übernächtigt aus,
als hätten sie bereits die ganze Nacht vor dem Firmengebäude verbracht. Und
vermutlich hatten sie das auch. Sie kamen mit Mikrofon und Kamera bewaffnet
direkt auf Maarten zugestürzt und brüllten ihre Fragen so unkoordiniert zu ihm
herüber, dass er kein einziges Wort verstand. Aber er hatte sowieso nicht vor,
auch nur einen Satz zu sagen. Das hatte er ihnen zwar auch schon am Tag zuvor
mitgeteilt, aber seine abwehrende Haltung schien sie nicht im Geringsten
nachhaltig beeindruckt zu haben.
„Herr Dr. Sieverts“, brüllte ihm
eine Stimme direkt ins Ohr, als er sich seinen Weg zum Eingang bahnte, „Herr
Naumann nennt Sie einen elendigen Lügner. Keine Ihrer Aussagen entspreche auch
nur ansatzweise der Realität, hat er gesagt. Sie seien ein ganz abscheulicher
Wichtigtuer. Was sagen Sie dazu, Herr Dr. Sieverts?“ Ehe er sich’s versah sah
sich Maarten mit einem riesigen, mit flauschigem Fell umwickelten Mikrofon
konfrontiert, das sich ihm in die rechte Wange bohrte. Entnervt zog er seinen
Kopf zurück und schob es beiseite. „Ich habe Ihnen bereits gestern mitgeteilt,
dass ich mich zu der Sache nicht mehr äußern werde“, rief er der keifenden
Stimme gereizt zu. „Aber vielleicht ist ja Herr Rhein auskunftsfreudiger“,
fügte er spröde lächelnd hinzu und zeigte in Richtung Parkplatz, wo er in
einiger Entfernung den zweiten Vorstand auftauchen sah, der zielgerichtet einem
Seiteneingang zuzustreben schien.
Sofort hechtete die Meute in
dessen Richtung und Maarten seufzte erleichtert auf. Doch schon im nächsten
Moment nahm er neben sich einen Schatten wahr. Er drehte sich um und blickte in
die Augen eines zierlichen jungen Mädchens, das ihn zugleich herausfordernd und
etwas schwermütig ansah. Sie trug eine Kamera um den Hals, die für ihren zarten
Körper viel zu schwer zu sein schien. Irgendetwas an ihrem Anblick rührte ihn.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er
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