Windbruch
kreischende Stimme aus seinem Vorzimmer und ihm war, als
würde sich in diesem Moment eine eiskalte Hand um sein Herz klammern und es ihm
aus dem Körper reißen. Sonja! Die Polizei hatte ihr Bescheid gegeben und hergebracht.
Wie um alles in der Welt sollte er ihr jemals wieder ins Gesicht sehen können!?
„Mama“, schrie Nicolas und sprang von Maartens Schoß hinunter, um sich im
nächsten Moment in die Arme seiner Mutter zu stürzen. Die brach unter der
plötzlichen Last zusammen, und nun saßen Mutter und Sohn schluchzend am Boden,
klammerten sich aneinander und boten in ihrer tiefen Traurigkeit ein Bild des
Jammers.
Der Notarzt warf einer jungen
Frau in Sanitäterkleidung einen auffordernden Blick zu und machte mit dem Kopf
eine Geste in Richtung Sonja und Nicolas. Sie nickte, ging neben den beiden in
die Hocke und sprach leise auf sie ein. Dann griff sie Sonja unter den Arm,
half ihr auf und führte sie gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn zum Sofa. Wie eine
Marionette ohne Fäden ließ sich Sonja in die Polster fallen, ihren Muskeln
schien jegliche Spannung verloren gegangen zu sein. Als die junge Sanitäterin
etwas zu ihr sagte, hob Sonja erstmals den Kopf und schaute Maarten direkt in
die Augen. Ihr Blick war leer und dennoch meinte er, darin einen stummen
Vorwurf zu lesen. Du hast nicht auf meinen Jungen aufgepasst , schien
dieser Blick zu sagen, obwohl du es mir versprochen hattest . Aber sie
sagte nichts, sondern schien nur durch ihn hindurch zu sehen. Apathisch strich
sie Nicolas immer wieder über den Kopf, der regungslos an ihrer Schulter
lehnte.
Ja, Maarten fühlte sich schuldig.
Hätte er die Jungen nicht mit Inka alleine gelassen, dann wäre das alles nicht
passiert. Er hatte versagt. Er hatte diese verschissene Geschichte mit den
Chemikalien über sein Versprechen gestellt, auf Nicolas und Tilman Acht zu
geben. Franziska würde ihm später immer wieder sagen, dass es nicht seine
Schuld sei, dass keiner habe ahnen können, dass so etwas passieren würde. Aber
das stimmte nicht. Er hatte eine unmissverständliche Warnung bekommen, dass er
sich aus der Sache heraushalten solle, wenn er nicht wolle, dass ihm oder einer
ihm nahe stehenden Personen etwas zustieß. Er hatte diese Warnung nicht ernst
genug genommen. Und jetzt war es passiert. Doch, er war schuld, er ganz allein.
Hauptkommissar Büttner blickte
mit gerunzelter Stirn auf die schweigenden Menschen im Raum und hasste
plötzlich seinen Job so sehr, wie er es niemals für möglich gehalten hätte.
Nahm denn die Spirale aus Schrecken, Trauer und Gewalt nie ein Ende? Anstatt auch
nur den Ansatz einer Lösung zu den zahlreichen Verbrechen zu finden, die alle
ihren Ursprung unter diesem Dach zu haben schienen, drehte sich die Spirale von
Tag zu Tag schneller, riss dutzende Menschen und Schicksale einfach mit sich
und ließ die Polizei wie einen dummen Schuljungen dastehen, der auch am
nächsten Tag seine Hausaufgaben wieder nicht gemacht haben würde.
Er war bei der Vernehmung von
Tomke Coordes gewesen, als ihn der Anruf aus der Polizeizentrale erreichte. Sie
hatte einen sehr vernünftigen und gefassten Eindruck gemacht und all seine
Fragen bereitwillig beantwortet. Im Ergebnis aber hatte diese Befragung nichts
gebracht, denn Frau Coordes schien an die Ereignisse auf der Plattform
keinerlei Erinnerung mehr zu haben, was ihm auch von dem behandelnden Arzt
bestätigt worden war. Er wusste, dass man Mördern selten ansah, dass sie Mörder
waren. Viele sahen sogar aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Aber sein
Gefühl sagte ihm, dass er bei der Coordes tatsächlich an der völlig falschen Adresse
war, wenn es um den Mord an Rautschek ging. Und das ärgerte ihn. Denn damit
ging ihm sein einziges Puzzleteil verloren, das ihm in diesem Fall in die Finger
gespielt worden war. Er würde sich nun diesen Georg Hufschmidt noch mal
intensiver vorknüpfen müssen, um herauszubekommen, was ihn dazu trieb, Tomke
Coordes zu beschuldigen, eine Mörderin zu sein. Verfluchter Mist! Innenminister
Ralf Hünemann rief schon jeden Tag an und fragte nach den Fortschritten seiner
Ermittlungen. Fortschritte! Pah! Die Anzahl der Fortschritte reichte nicht mal
für einen Nebensatz. Würde Hünemann sich hingegen nach den Rückschlägen
erkundigen, könnte Büttner ihm problemlos eine ganze Vorlesung halten. Und
jetzt noch das! Eine Kindesentführung! Das war für jeden Polizisten der
Super-Gau. Da konnte man nur verlieren. Ganz egal, wie die Geschichte
Weitere Kostenlose Bücher