Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
Vom Netzwerk:
hatte eine hohe gewölbte Decke. Die Steinwände waren kahl, ohne Gemälde oder Fotografien oder sonstigen Schmuck. Eine lange Tafel erstreckte sich quer am hinteren Ende des Raumes, und zwei weitere säumten die Längswände, alle mit schweren weißen Tischtüchern bedeckt und mit Bänken davor. Nur an der Quertafel standen Stühle.
    Dann erhob sich über die Polyphonie hinweg zum Continuo der Menge eine Oberstimme, ein einzelner melodischer Faden. Die unverkennbaren Eröffnungsakkorde und die schlichte Weise einer
vielle
. Augenblicke später setzte eine klare Diskantstimme ein.
    Lo vièlh Ivèrn ambe sa samba ranca
    Ara es tornat dins los nòstres camins
    Le nèu retrais uns flassada blanca
    E’l Cerç bronzís dins las brancas dels pins.
    Ich verstand die Worte nicht, aber ich erfasste ihre Stimmung und wusste irgendwie, dass der Mann von den Bergen sang, vom Winter, von Schnee und Pinien. Eine alte Ballade in einer uralten Sprache. Die ganze Zeit während des Gesangs hielt mich die Musik in ihrem Bann, füllte meinen Kopf mit Bildern und Gefühlen, die lange verschwunden gewesen waren. Tränen brannten mir in den Augen.
    Vor Jahren hatte ich einmal George zu erklären versucht, was ich empfand, wenn ich einen Chor singen hörte, wenn ich den Widerhall eines gregorianischen Chorals in den oberen Rängen der Kathedrale oder im Gestühl unserer kleinen Landkirche in Lavant hörte, aber er hatte mich nicht verstanden. Musik konnte ihn nie bewegen, und auch wenn er sich hinsetzte und stundenlang meinem Klavierspiel lauschte, wusste ich doch, dass er in Gedanken woanders war. Er saß meinetwegen da, nicht seinetwegen.
    »Monsieur, soyez le bienvenu.«
    Die Stimme holte mich zurück in die Gegenwart. Ich wandte mich um und sah einen Mann mit vollem kupferrotem Haar und einem offenen, nachdenklichen Gesicht, der mich anlächelte.
    »Hallo, vielen Dank«, ich streckte ihm meine Hand hin. »Frederick Watson. Madame Galy hat gesagt, ich sollte mal hereinschauen. Ich habe für ein oder zwei Nächte ein Zimmer bei ihr.«
    »Guillaume Marty.«
    Da er meine ausgestreckte Hand nicht ergriff, obwohl sein Gesichtsausdruck freundlich war, zog ich meine wieder zurück.
    »Ein großes Fest«, sagte ich.
    »Alle, die können, sind hier, ja.« Er nickte. »Bitte, folgen Sie mir! Ich suche Ihnen einen Platz an der Tafel.«
    Marty hatte sich irgendwie religiös verkleidet, als Priester oder Mönch, doch das lange grüne Gewand schien ihn nicht zu behindern, und er bewegte sich rasch durch die Menge. Er trug Sandalen und um die Taille einen Ledergürtel, an dem eine Schriftrolle oder ein zusammengerolltes Stück Pergament hing. Er wirkte vollkommen glaubwürdig. Wieder staunte ich, was für eine Mühe sich die Bewohner dieses kleinen Dorfes gegeben hatten, damit der Abend ein Erfolg wurde.
    Auf unserem Weg durch die Halle wurde Marty immer wieder auf mich angesprochen. Von zwei lächelnden Schwestern, Raymonde und Blanche Maury, in königsblauen Gewändern mit roten Stickereien an Hals- und Ärmelbündchen. Von Sénher Bernard und seiner betagten Gattin; von der Witwe Na Azéma, wie sie mir vorgestellt wurde, das Haar von einem grauen Schleier bedeckt, der unter dem Kinn festgesteckt war; von Na und Sénher Authier, Letzterer ein beleibter Herr, dessen kräftige Gesichtsfarbe und voluminöse Arme vermuten ließen, dass Essen und Trinken seine Passion waren. Nach etlichen weiteren Vorstellungen wurde mir klar, dass Na und Sénher der landschaftliche Ausdruck für Madame und Monsieur waren. Ich bemerkte eine Frau, die meiner Wirtin von der Seite sehr ähnlich sah, und wollte ihr schon zuwinken, als sie sich ganz umwandte und ich feststellte, dass sie es nicht war.
    »Ist Madame Galy hier?«
    »Ich habe sie auf jeden Fall noch nicht gesehen.«
    Der Unterschied zwischen dem Gefühl der Traurigkeit, das mich überfallen hatte, als ich das Dorf betrat, und dieser geselligen Versammlung hätte deutlicher nicht sein können. Hier im Ostal waren Zusammengehörigkeit und Verbundenheit geradezu greifbar. Alle, an denen wir vorübergingen, lächelten und nickten, zeigten ihr Wohlwollen.
    Guillaume Marty blieb stehen und bedeutete mir, einen der wenigen freien Plätze auf einer Bank einzunehmen. Ich schob mich in die Lücke, linkisch von beiden Seiten eingezwängt. Als ich mich umwandte, um Marty zu danken, dass er sich so um mich gekümmert hatte, war er schon wieder verschwunden, von der Menge verschluckt. Ich lehnte mich zurück und suchte den

Weitere Kostenlose Bücher