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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Scharfsinn. Aber sosehr ich mich auch bemühte, meinen Part zu spielen, das Gespräch blieb immer einseitig.
    Traf mich diese Erkenntnis in jenem kleinen Zimmer in Nulle? Dass ich mir angewöhnt hatte, jeden geistreichen, klugen Aphorismus George zuzuschreiben? Dass ich aus meinem eigenen Leben hinaus auf die Seitenbühne getreten war und ihm die Hauptrolle überlassen hatte? Oder war das etwas, was ich bereits wusste, mir jedoch nicht hatte eingestehen wollen?
    Aber eines weiß ich genau: Als ich die ledernen Kostümstiefel auf den Boden fallen ließ, spürte ich, wie mir etwas entglitt. Wie etwas verloren ging.
    »Ein schrecklich großes Abenteuer«, murmelte ich.
    Ich blieb noch einen Moment sitzen, dann ging ich zu der Kommode hinüber und goss mir zwei Fingerbreit aus der Flasche ein. Es war ein dickflüssiger roter Likör, und ich trank ihn in einem Zug. Ein bisschen süß für meinen Geschmack, aber er brannte mir doch feurig in der Kehle. Wärme durchströmte meine Brust. Ich goss mir noch einen Doppelten ein. Wieder stürzte ich ihn in einem Zug hinunter. Der Alkohol nahm den Dingen ihre Kanten. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, den warmen Kokon des Zimmers zu verlassen. Ich nahm eine Zigarette aus meinem Etui, klopfte den Tabak fest und ging im Raum auf und ab, während ich rauchte. Diesmal genoss ich das Gefühl des kalten Holzes unter den nackten Füßen. Ich dachte über den Tag nach, dachte über alles nach.
    Ich schnippte den Stummel der Zigarette ins Feuer und ging in die Hocke, um zu überprüfen, ob meine Socken trocken waren. Bei der Bewegung drehte sich plötzlich der Raum um mich.
    »Essen«, murmelte ich. »Ich muss was essen.«
    Die Socken waren trocken, aber steif wie ein Brett, und ehe ich sie anzog, knetete und dehnte ich die Wolle. Die Stiefel waren ein wenig eng und sahen zusammen mit der Tweedhose ziemlich eigenartig aus, aber ansonsten saßen sie nicht schlecht.
    Ich war bereit. Ich sammelte meinen Krempel von der Kommode und steckte die handgezeichnete Wegbeschreibung ein, die Madame Galy mir, wie versprochen, hingelegt hatte. Dann nahm ich den Brief und trat nach einem letzten Rundumblick durchs Zimmer hinaus auf den kalten Korridor.
    Unten war niemand, obwohl die Öllampen brannten. Ich legte den Brief deutlich sichtbar auf das Empfangspult, beugte mich dann darüber und rief in die Dunkelheit der hinteren Räume.
    »Monsieur Galy? Je m’en vais.«
    Es kam keine Antwort. Als ich mich zurücklehnte, sah ich, dass ich Handabdrücke auf dem polierten Holz hinterlassen hatte. Das Problem war, dass ich vergessen hatte zu fragen, wie ich später wieder in die Pension hineinkommen würde. Brauchte ich einen Haustürschlüssel? Sollte ich läuten oder wäre die Tür unverschlossen?
    »Monsieur Galy, ich gehe dann jetzt«, rief ich erneut.
    Noch immer antwortete niemand. Ich zögerte, dann schob ich mich um das Pult herum und hängte den Zimmerschlüssel wieder an seinen Haken, damit Monsieur Galy sah, dass ich das Haus verlassen hatte.
    In der Nische unter dem Treppenaufgang sah ich eine alte, hohe Mahagonistanduhr. Ich blickte auf das fleckige, elfenbeinfarbene Ziffernblatt, auf die schlanken römischen Ziffern und die zarten schwarzen Zeiger. Da begann im Innern des Kastens der Mechanismus zu surren, dann setzte ein helles Glockenspiel ein.
    Ich wusste, ich hatte mir Zeit gelassen, war aber dennoch verblüfft, dass es bereits zehn Uhr schlug. Im Sanatorium, unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln, waren ganze Tage wie ein Wimpernschlag vergangen. Dann wieder, wenn ich von den Medikamenten, die mir morgens und abends zwangsverabreicht wurden, völlig abgestumpft war, schien die Welt sich dahinzuschleppen und fast zum Stillstand zu kommen. Dennoch, war es schon sieben volle Stunden her, seit ich in der Pension eingetroffen war? Kein Wunder, dass ich Hunger verspürte.
    Mein Mantel hing an einem Haken an der Wand neben der Haustür. Ich schlüpfte hinein und setzte meine Mütze auf, dann zog ich die schwere Tür auf und trat hinaus in die Nacht.

La Fête de Saint-Étienne
    D ie Place de l’Église war menschenleer. Schon jetzt herrschte eisiger Frost, und der Boden unter meinen Füßen glitzerte weiß. Es war sehr ruhig und sehr schön, wie Flitter auf einer Weihnachtskarte. Die
flambeaux
loderten hell.
    Mit Madame Galys Wegbeschreibung in der Hand stapfte ich diagonal über den Platz auf die Kirche und das dahinterliegende Gewirr von Sträßchen zu, die das älteste
quartier
des

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