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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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anderes beliebtes Winterdessert, so erklärte Fabrissa, wurde aus den Blüten der Kardone zubereitet. Blanchiert und anschließend in Stoff eingewickelt, vergrub man sie in der Erde, um sie später nach dem Ausgraben mit Honig zu verrühren, was eine weiche Paste ergab.
    Ich kann mich kaum erinnern, worüber wir, abgesehen vom Essen, zu Beginn des Abends sprachen. Alles ist verschwommen, umwabert vom warmen Nebel aus Wein und Geplauder, das belanglos war, aber doch so überaus angenehm für mich. Ich weiß nicht mal mehr, ob sie mit mir französisch sprach oder ich mit ihr englisch, oder
moitié-moitié
, ein Duett aus zwei Sprachen. Doch selbst fünf Jahre danach kann ich noch immer den würzigen Geschmack des Pökelfleisches auf der Zunge schmecken, noch immer die rauhe, holzige Textur der dicken Bohnen in ihrem sämigen Ölmantel spüren, noch immer das sandige Brot, wie zerkrümelter Kuchen, zwischen den Fingern fühlen.
    Und noch immer höre ich im Geist dieses Lied, obwohl ich den Troubadour nie zu Gesicht bekam. Seine Stimme schwebte durch die Halle hinauf unters Gewölbe, in jeden steinigen Winkel, jedes verstaubte Spinngewebe. Ich erinnere mich an meine Verwunderung, dass er so lange singen, einen Ton gleichmäßig und ununterbrochen halten konnte, und ich denke, das sagte ich auch. Ich glaube, ich könnte sogar versucht haben, ihr von den musikalischen Ambitionen zu erzählen, die ich einst hegte, ehe der Krieg dazwischenkam und mein Vater beschloss, dass Berufsmusiker nicht das Richtige für seinen Sohn war. Doch letztendlich scheute ich vor derlei Vertraulichkeiten zurück. Ich wollte Fabrissa nicht belasten und mich nicht als einen Menschen zu erkennen geben, der vom Leben enttäuscht war. Stattdessen bat ich sie, mir zu erzählen, wovon die Ballade handelte, und als sie das getan hatte, erklärte ich ihr die Begleitung, wie eine Note auf der anderen aufbaute, um ganz eigene Harmonien zu bilden.
    So verging die Zeit und schien doch stillzustehen. Und in meiner Verzauberung war die Welt zusammengeschrumpft auf Fabrissas schlanke weiße Hände, auf die Verheißung ihrer wallenden schwarzen Haare, ihrer grauen Augen, ihrer klaren sanften Stimme.
    »Sind Sie ein ehrlicher Mann?«, fragte sie.
    »Wie bitte?«
    Ich merkte auf, verblüfft von der Frage, aber auch von dem ernsten Ton, mit dem sie gestellt worden war. Er unterschied sich dermaßen von der Leichtigkeit, die bis zu diesem Moment unser Gespräch geprägt hatte, dass ich wirklich nicht wusste, was ich davon halten sollte.
    Aber ich antwortete. Natürlich antwortete ich.
    »Ich denke schon«, sagte ich. »Ja.«
    Darauf neigte Fabrissa den Kopf zur Seite, eine Geste, die ich schon mehrfach an ihr beobachtet hatte, und sah mich an.
    »Und ein Mann, der Wahres von Falschem unterscheiden kann?«
    Ich überlegte einen kurzen Moment. Zehn Jahre mit Stimmen im Kopf, mit Erinnerungen, die realer und lebendiger waren als die Welt vor meinem Fenster. Zehn Jahre mit George an meiner Seite. All das würde eher darauf hindeuten, dass ich mich sehr weit von der Wirklichkeit gelöst hatte, dass ich unfähig war, Wahres von Falschem zu unterscheiden. Doch in dem Moment, als ich zusammen mit Fabrissa in der herzlichen Gemeinschaft des Ostals saß, lag die Antwort auf der Hand.
    »Ja. Wenn es drauf ankommt, ja. Das bin ich.«
    Sie lächelte ein breites und hoffnungsvolles Lächeln. Und ich armer Tropf fühlte tausend Emotionen in mir aufblühen. Ich war verloren. Verwirrend verloren, mit Leib und Seele. Sie betrachtete mich noch immer, als suchte sie die Antwort auf eine Frage, die sie erst noch stellen musste.
    »Ja«, sagte sie schließlich. »Das sehe ich.«
    Ein leiser Pfiff entwich meinen Lippen. Ich hatte das Gefühl, eine Art Prüfung bestanden zu haben. Ein moderner Ritter Gawain, der von der Tafelrunde aufbricht, nachdem er die Bedingung für seine Suche nach dem Heiligen Gral erfüllt hat. Ich spürte Fabrissas ruhigen Blick auf mir, der den Mann abschätzte, der ich war. Ich sah ihr an, dass sie abwog und überlegte, ich konnte die Regung in ihren Augen sehen. Doch äußerlich war sie so still, so überaus still. Ich versuchte, es ihr gleichzutun, obwohl die Nervosität in meinem Magen sich anfühlte wie schwappendes Bilgenwasser in einem lecken Ruderboot.
    Der Augenblick dehnte sich zwischen uns aus. Die Formen und Klänge und Gerüche im Saal, alle Gäste darin traten in den Hintergrund. Dann rückte Fabrissa ein Stück auf der Bank, und der Bann war

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