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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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gebrochen.
    »Erzähl mir von ihm!«, sagte sie.
    Der Boden sackte unter mir weg wie die Falltür unter der Henkersschlinge. Ein jäher, ungebremster Absturz, dann der Ruck des Stricks.
    Woher wusste sie? Ich hatte nichts gesagt. Nichts angedeutet. Ich wollte nicht über George reden, nicht einmal mit Fabrissa. Vor allem nicht mit Fabrissa. Ich wollte nicht, dass sie mich als das Wrack sah, für das ich mich selbst hielt, sondern als den Mann, der ich während der letzten Stunden in ihrer Gesellschaft gewesen war.
    »Was meinst du damit?«, fragte ich schneidender, als mir lieb war.
    Sie lächelte. »Erzähl mir von George!«
    Ich gab noch immer vor, ihr nicht folgen zu können.
    »Freddie?«, sagte sie leise. Ihre Hand schob sich auf dem groben weißen Tischtuch etwas näher an meine heran. Ihre Fingernägel hatten die Farbe von Perlmutt.
    Ich holte scharf Luft. »Ich kann nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Ich …«
    Wie sollte ich das erklären? Ich suchte nach einer Ausrede.
    »Es ist alles gesagt.«
    »Vielleicht sind nur die falschen Dinge gesagt worden.«
    Ihre Hand war jetzt der meinen so nah, dass wir uns fast berührten. Mir fiel auf, dass der goldene Ring, den sie am rechten Daumen trug, zu weit war. Er ruhte auf dem Knöchel, als wäre er erstaunt, dort gelandet zu sein.
    »Reden hilft nicht.«
    Die Luft zwischen ihrer Haut und meiner vibrierte. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Wagte es nicht, meine Fingerspitzen an ihre gleiten zu lassen.
    »Reden hat nicht geholfen«, beteuerte ich mit trockener Kehle. Ich schaute sie kurz an. Sie lächelte noch immer, nicht mitleidig, sondern voller Gefühl und Neugier. Ich spürte, wie etwas in mir zersprang.
    »Könnte es nicht sein, dass du nur geredet hast, weil andere das von dir verlangten? Möglicherweise? Aber hier ist das anders. Die Dinge sind anders. Versuch es doch!«
    »Ich habe es versucht«, blaffte ich und war entsetzt, wie rasch das Gefühl zurückkehrte, ungerecht beurteilt zu werden. Mutter hatte mir unterstellt, dass ich nicht gesund werden wolle, und Vater auch. Der Gedanke, dass Fabrissa das Gleiche annahm, war mir unerträglich. »Niemand hat mir geglaubt, aber ich hab’s versucht.«
    Ob absichtlich oder zufällig, jedenfalls streifte ihre Hand die meine, als sie sie vom Tisch nahm und in den Schoß legte. Der Sinneseindruck war so intensiv, so durchdringend, dass es sich anfühlte, als hätte ich mich verbrannt.
    »Ich …«
    »Versuch es erneut, Freddie!«, sagte sie.
    Und diese leisen Worte, diese vier einfachen Worte bargen die Verheißung eines ganzen Lebens, das ich leben könnte, wenn ich nur diese Chance ergriff.
    Ich erinnere mich noch an das Gefühl, von dem ich erfasst wurde – dass alles möglich war, eine Art Leichtigkeit. Plötzlich schienen jede Sehne, jeder Muskel, jede Ader in meinem Körper zu vibrieren, zu erwachen. Falls ich den Mut fände zu reden, würde sie zuhören. Fabrissa würde zuhören.
    Ich schöpfte tief Luft und atmete dann langsam, gleichmäßig aus. Und endlich begann ich zu reden.

Gedenken und Verlust
    I ch erinnere mich an alles an jenem Tag. An jedes noch so winzige Detail«, begann ich. »An den Geruch und wie ich ihn wahrnahm, an jede Sekunde vor und nach dem Klopfen an der Haustür.
    Ich war oben in meinem Zimmer, saß im Schneidersitz auf dem Boden und röstete Brot im Kamin, ein Stück Butter gleich neben mir auf einem alten grünen Porzellanteller. Es war September, doch der Herbst warf seine Schatten voraus. Die dunkelroten Blätter der Blutbuche wechselten die Farbe, und früh am Morgen waren die Fensterscheiben von innen beschlagen. Der Kamin war nach dem vergangenen Winter zum ersten Mal wieder angezündet worden, und es roch bitter und modrig durch den Ruß im Rauchabzug.
    An der Wand über meinem Kopf war eine handgemalte Europakarte angeheftet, die im
Manchester Guardian
abgedruckt worden war. Sie war mit roten Kreuzen übersät – mein Versuch, jeden Ort zu markieren, wo das Royal Sussex Regiment gelegen hatte oder wo zumindest meiner Vermutung nach die Abteilung meines Bruders gewesen sein könnte …« Ich verstummte, vom Schmerz der Erinnerung übermannt.
    Fabrissa wartete. Sie schien es nicht eilig zu haben, denn sie drängte mich weder, noch bat sie mich, ohne Unterbrechungen klar und verständlich in einem Fluss zu erzählen. Ihre Geduld griff auf mich über, und als ich die Kraft zum Weiterreden fand, hatte ich die Abfolge der Ereignisse klarer vor Augen, so dass die Worte, die ich

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