Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
Vom Netzwerk:
Raum nach ihm ab, konnte aber sein grünes Gewand nirgends entdecken.
    »Komisch, dass er sich nicht verabschiedet hat«, murmelte ich. »Schade.«
    Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf meine unmittelbaren Tischnachbarn. Rechts von mir saß ein Mann in meinem Alter mit strohigem braunem Haar, dicken schwarzen Brauen und schmutzigen Fingernägeln. Er hatte den Oberkörper über den Tisch gebeugt. Seine dunkle Tunika, die von einem Gürtel gehalten wurde, war fleckig von Fett und Rotwein und Bratensaft, eine Speisekarte der Gerichte, die er verzehrt hatte. In seinen Augen flackerte Neugier, die er rasch zügelte. Ich lächelte ihn an, und er nickte knapp zur Begrüßung, sagte aber nichts.
    Ich wandte mich nach links.
    Wäre ich ein Verseschmied, könnte ich vielleicht annähernd dem ersten Eindruck gerecht werden, den die junge Frau neben mir auf mich machte. So jedoch muss eine schlichte Beschreibung genügen. Sie war eine Erscheinung, wie von Burne-Jones oder Waterhouse gemalt, fein und vollkommen, und ich, der ich so lange von Schönheit unberührt geblieben war, spürte, wie mein Herz höher schlug. Eine dunkle Lockenpracht umrahmte ein erlesenes Gesicht, das weder von Puder noch Rouge verunziert wurde. Ein breiter, hübscher Mund, gleichfalls so wie die Natur ihn schuf, gewann durch die Lachfältchen nur noch mehr an Reiz.
    Offenbar hatte die Frau die Intensität meines Blickes gespürt, denn sie wandte den Kopf und sah mich an. Kluge graue Augen umrahmt von langen Wimpern. Ich glotzte wie ein Idiot.
    »Frederick Watson«, sagte ich, als mir endlich wieder meine guten Umgangsformen einfielen. »Freddie. Meine Freunde nennen mich Freddie.«
    »Ich bin Fabrissa.«
    Das war alles, mehr sagte sie nicht. Aber es genügte. Schon war mir ihre Stimme vertraut, eine Stimme zum Verlieben.
    »Was für ein bezaubernder Name«, sagte ich. Mein Gehirn schien sich vom restlichen Körper gelöst zu haben. »Verzeihen Sie, ich wollte nicht …«
    Sie lächelte. »In fremder Gesellschaft muss man sich erst eingewöhnen.«
    »Ganz recht«, sagte ich schnell. »Man weiß nicht, was einen erwartet.«
    »Nein.«
    Sie verstummte, und ich schwieg zum Glück auch. Ich trank einen kräftigen Schluck Wein, um meine Nerven zu beruhigen. Es war ein herber Rosé, vollmundig wie ein trockener Sherry, und ich musste husten. Sie gab vor, es nicht zu bemerken.
    Ich war dankbar für das Treiben um uns herum. Es bot mir Gelegenheit, Fabrissa unauffällig aus den Augenwinkeln zu beobachten. Peu à peu nahm ich jede Einzelheit ihrer Erscheinung wahr. Ein langes blaues Gewand, eng an den Schultern und in der Taille gerafft. Ärmel mit weitem Bund. Dort und am Halsausschnitt war ein sich wiederholendes Muster aus weißen ineinandergreifenden Rechtecken aufgenäht. Es passte zu dem Muster auf ihrem bestickten Gürtel – ein Stoffband, vermutete ich – Blau und Rot auf weißem Grund. Der ganze Eindruck war einfach, aber elegant, nicht übermäßig bemüht, Blicke auf sich zu ziehen. Kein Tand. Hinreißend in seiner Schlichtheit.
    Behutsam kamen Fabrissa und ich ins Gespräch. Dank des säuerlichen, kräftigen Weins schlug mein Puls bald wieder im normalen Rhythmus. Aber ich war mir jedes Zentimeters ihres Körpers bewusst, als verströmte sie eine Art elektrische Spannung. Ihre weiße Haut und das blaue Gewand und ihr samtschwarzes Haar … Ich fühlte mich plump neben ihr, flüchtete mich in unverfängliche Fragen und schaffte es wider Erwarten, meine Stimme fest und ruhig zu halten.
    Helfende Hände reichten Terrinen herum. Als die Deckel gelüftet wurden, verströmte warme Kohlsuppe mit Speck, Lauch und Kräutern ihr dampfendes Aroma, um sogleich mit Kellen in die erdfarbenen Schüsseln auf jedem Platz verteilt zu werden.
    Offenbar hielt man nichts davon, die einzelnen Gänge nacheinander aufzutragen. Flache graue Servierteller erschienen, auf denen sich dicke Bohnen in Öl, pürierte Steckrüben, ganze Hähnchen, Hammelbraten und gepökeltes Schweinefleisch türmten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes trug ein Servierer hoch auf der Schulter ein Holzbrett mit sechs Forellen, deren Schuppen silbern glänzten.
    Fabrissa erläuterte mir jedes neue Gericht, einheimische Spezialitäten, Rezepte, die ich noch nie gekostet hatte. Eines war ein eigenartiges
compote
aus, wie sie mir sagte, Mispeln, einer hässlichen Baumfrucht, die nach der Ernte zum Reifen gelagert werden musste. Das Kompott hatte die klebrige Konsistenz von Honig. Ein

Weitere Kostenlose Bücher