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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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verändert hatte. Die Luft war erwartungsvoll aufgeladen, angespannt.
    Ich riss meinen Blick kurz von Fabrissa los. Während unseres Gesprächs war alles andere in den Hintergrund getreten. Jetzt wurde die Welt wieder klarer, als würden nach einem Konzert die Lichter im Zuschauerraum angehen. Die weißen Tischtücher, nicht mehr makellos, sondern übersät mit leeren Tellern, Weinflecken, Brotkrümeln, Hühnerknochen und Bratensoße.
    Der Geräuschpegel war gesunken. Wie das tiefe Grollen einer Frühjahrsbrandung, die vom Strand zurückweicht, war das Stimmengemurmel gleichmäßig, aber gedämpft. Jedermann schien nur noch halblaut zu reden. Verstohlene und wachsame Blicke, kein Lachen mehr. Zum ersten Mal, seit ich an der Tafel Platz genommen hatte, wurde mir unbehaglich zumute.
    Ich wandte mich wieder Fabrissa zu, aber sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Und als ich ihren Namen sagte, fuhr sie heftig zusammen, als hätte sie vergessen, dass ich da war.
    »Fabrissa«, wiederholte ich sanft. »Was ist denn? Was ist los?«
    Da sah sie mich an, und in ihrem Blick lag so viel Bedauern, so viel Sehnsucht, dass mir der Atem in der Brust stockte. Ich vergaß mich, hob instinktiv den Arm und legte ihn um ihre schmalen Schultern. Sie war so dünn, so zerbrechlich unter der schweren Baumwolle ihres Gewandes. Haut und Knochen, kaum vorhanden. Aber während ich sie im Arm hielt, spürte ich, wie mein Herz jubelte, wie es sich weitete und frei in die Lüfte schwang. Dann bewegte sie sich, als bereite ihr meine Berührung Schmerzen, und obwohl sie mich nicht darum bat, ließ ich den Arm wieder sinken.
    Da spürte ich etwas. Ein Stück rauher Stoff, dessen Beschaffenheit anders war als die des übrigen Gewandes. Behutsam hob ich ihr Haar an und sah, dass auf dem Rücken des blauen Kleides ein grobes gelbes Stoffkreuz etwa von der Größe einer Männerhand aufgenäht war.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    Fabrissa schüttelte den Kopf, als wäre es zu kompliziert zu erklären. Jetzt bemerkte ich etwas, was ich zuvor übersehen hatte; dass nämlich viele der anderen Gäste das gleiche gelbe Kreuz hinten auf ihren Tuniken oder Gewändern trugen.
    »Fabrissa, was bedeuten diese Kreuze?«
    Sie antwortete nicht, aber ich sah, dass sie beklommen war. Die Luft fühlte sich jetzt schwer an, lastend. Alle warteten darauf, dass etwas passierte, das spürte ich. Ein Frösteln lief mir über den Rücken. Ich griff nach meinem Becher, hatte vergessen, dass er leer war.
    »Verdammt.«
    Wahrscheinlich war es besser so. Alle Konturen waren ein wenig unscharf geworden. Ich war schon ziemlich angetrunken.
    Dann hörte ich ganz deutlich das Stampfen von Hufen draußen auf der Straße und das Klirren von Pferdegeschirr. Ich runzelte die Stirn. Wer mochte zu dieser nächtlichen Stunde und bei diesen Temperaturen noch unterwegs sein?
    »Nichts kann dir hier etwas anhaben«, sagte sie. »Niemand.«
    Nach dem langen Schweigen klang ihre Stimme erschreckend laut, und ich fuhr verstört herum.
    »Mir etwas anhaben? Wie meinst du das?«
    Aber ihr Blick hatte sich wieder verdüstert. Ich war völlig verwirrt. Wusste nicht, was ich davon halten sollte, von alldem hier halten sollte.
    Ich wandte mich nach rechts. Der Mann saß noch immer über die Reste seines Mahles gebeugt, aber er hatte aufgehört zu essen. Tischauf, tischab, überall im Saal bot sich dasselbe Bild. Ängstliche Gesichter. Furchtsame Gesichter. Alle, denen Guillaume Marty mich zu Anfang vorgestellt hatte: die betagten Schwestern Maury sowie Sénher und Na Bernard, einander an den Händen haltend; die Witwe Azéma, deren alte milchige Augen blicklos starrten. Erneut suchte ich nach Madame Galy, weil ich wusste, dass mich ihr Anblick beruhigt hätte, aber noch immer war sie nirgends zu sehen.
    Der Saal kam mir kälter vor, und ich empfand dasselbe Gefühl von Verzweiflung wie bei meiner Ankunft in Nulle, nur dass die Trauer jetzt von Furcht durchdrungen war.
    Am hinteren Ende des Raumes brach Streit aus. Stimmen wurden lauter, das Geräusch einer umstürzenden Bank. Zuerst vermutete ich ein Gerangel zwischen Betrunkenen. Es war spät, und der Wein war den ganzen Abend in Strömen geflossen.
    Fabrissa wandte sich dem Eingang zu. Ich tat es ihr gleich, und just in dem Moment wurde das schwere Holztor aufgestoßen. Zwei Männer traten in die Halle.
    »Was zum Teufel …«
    Ihre Gesichter waren unter kantigen Eisenhelmen verborgen, und das Kerzenlicht funkelte auf ihren gezückten

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