Wintergeister
dass ihre Trauer berechtigter war als meine, also sagte ich nichts.«
»Leben deine Eltern noch?«
Ich schüttelte den Kopf. »Mutter ist letzten Winter gestorben. Vater im Frühjahr dieses Jahres.«
»Und vermisst du sie?«
Ich wollte schon die üblichen Plattitüden stammeln, bremste mich aber. Welchen Grund hatte ich zu lügen? Gute Manieren, Tradition, die Angst, ein schlechtes Bild abzugeben? In Wahrheit empfand ich Erleichterung, nicht Schmerz. Jetzt, da sie beide tot waren, musste ich mich nicht mehr verstellen. Sie waren unfähig gewesen, mich zu lieben. Aber das war ihr Versagen, nicht meines.
»Zuweilen«, sagte ich schließlich. »Hin und wieder geschieht etwas, und dann muss ich an sie denken. Ich habe einige wenige schöne Erinnerungen, aber die meiste Zeit ist es leichter ohne sie.«
Wieder blickte ich Fabrissa an. Sie schien nicht irritiert oder entsetzt zu sein. Im flackernden Kerzenlicht war ihre Haut jetzt beinahe durchscheinend, als raube ihr die Anstrengung des Zuhörens alle Farbe.
»Ich bilde mir ein, dass ich seinen Tod hätte akzeptieren können, wenn ich nur von ihm überzeugt gewesen wäre. Trauern, ja, aber weiterleben. Hätte ich doch nur akzeptiert, dass er tot war. Aber ich konnte mich nicht überwinden, das zu glauben. Jahrelang nicht. Die Vorstellung, dass er nie wieder pfeifend durch die Tür kommen würde, nie wieder in dem Ledersessel im Musikzimmer sitzen und Rauchkringel an die Decke blasen würde, während ich irgendeine Beethoven-Sonate auf dem Klavier klimperte, war zu absurd.
Ich denke, es war gerade dieses Nicht-Wissen, das meinen Verstand zermürbte. Nicht zu wissen, was mit ihm passiert war, wie er gestorben war, wann er gestorben war. Ich fing an, wie besessen diese letzten Minuten in Georges Leben zusammenzufügen. Ich las jeden Artikel in den Zeitungen, den ich während meiner Krankheit verpasst hatte. Studierte über die Schlacht bei Richebourg l’Avoué alles, was ich in die Hände kriegen konnte – das Gelände, den Wetterbericht, das Zahlenverhältnis der gegnerischen Truppen. Ich machte die wenigen Southdowners ausfindig, die überlebt hatten, und fragte brieflich bei ihnen an, ob sie George gesehen hatten.« Ich zuckte die Achseln. »Ich machte allen das Leben zur Hölle.«
»Die Toten hinterlassen ihre Schatten, einen Nachhall des Raumes, den sie einst bewohnten. Sie suchen uns heim, werden nie schwächer oder älter wie wir. Wir betrauern nicht nur den Verlust ihrer Zukunft, sondern auch den der unseren.«
Sie sprach jetzt so leise, dass ich sie nur mit Mühe bei all dem Lärm im Saal verstehen konnte.
»Aber das hat dich nicht krank gemacht«, fuhr sie fort. »Nicht sein Tod, sondern das, was danach kam.«
Ich trank noch einen kräftigen Schluck Wein und hatte das Gefühl, der Raum würde schwanken. Ich hatte mehr als genug getrunken, doch ich wusste, dass ich meine Erinnerungen abstumpfen musste, wenn ich die Geschichte zu Ende erzählen wollte.
»Was auch immer ich tat, es änderte nichts«, sagte ich mit ruhiger Stimme. »Ich versuchte, Georges Tod irgendwie zu kompensieren. Wollte als Sohn doppelt so gut sein. Aber sie wollten George wiederhaben, keine Imitation von ihm. Sie wollten den Sohn haben, der Rugby und Kricket spielte und in den Krieg zog, keinen kränklichen Stubenhocker, keinen Jungen, der lieber musizierte und las, als zu reiten oder zu jagen oder im Winter auf dem zugefrorenen Lavant Schlittschuh zu laufen.«
Ich wickelte mir einen losen Baumwollfaden aus meiner Tunika so fest um den Zeigefinger, dass die Blutzufuhr abgeschnitten wurde. Die weiche Haut der Fingerspitze wurde zuerst weiß, dann bläulich. Das Gefühl war tröstlich.
»Angesichts der Missbilligung, mit der meine Eltern meine Bücherleidenschaft betrachteten, war es paradoxerweise ausgerechnet ein Buch, das mir schließlich den Rest gab. Georges letztes Geschenk für mich, im Dezember 1915 von der Front geschickt, mit braunem Papier und Kordel verpackt.« Ich stockte kurz. »Vor allem lasteten Schuldgefühle auf mir. Sechs Jahre lang gelang es mir nicht, aus ihrem Schatten zu treten. Und letztendlich hatte ich nicht mehr den Willen, dagegen anzukämpfen. Es war irgendwie einfach, mich zu ergeben.«
»Woran hast du dir die Schuld gegeben?«
Ich seufzte. »An allem. Ich weiß nicht. Es war widersinnig, aber so fühlte ich mich nun mal. Schuldig, weil ich der falsche Sohn war, weil ich zu jung gewesen war, um zu kämpfen, weil ich noch lebte und George nicht.«
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